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Drake beobachtete, wie sich die Windschutzscheibe in Zeitlupe auflöste. Tausende von winzigen Rissen breiteten sich wie ein Spinnennetz bei jedem Einschlag aus. Winzige Bruchstücke flogen in trägen Bögen nach außen und schwebten wie Schneeflocken vor seinen Augen.

Sein Blick fiel auf ein blaues Kleid dahinter, auf dunkles Haar und weit aufgerissene, flehentlich blickende Augen.

Drake erwachte mit einem Ruck und griff instinktiv nach der Waffe neben seinem Bett. Das war keine bewusste Bewegung, denn sein Verstand war immer noch in der albtraumhaften Welt gefangen, die ihn aufgesogen hatte.

Statt des kalten, rauen Griffs der Glock ertasteten seine Finger jedoch nur die glatte Oberfläche des Nachttischs.

»Suchen Sie etwas?«

Sein Kopf ruckte herum. Anya stand neben der Tür. Das Licht der aufgehenden Sonne drang durch die Spalten in den Jalousien hinter ihr. Sie hielt die Glock locker in der Hand.

Drake schnürte sich die Kehle zusammen, als er die Waffe anstarrte. Anya konnte jetzt tun, was sie wollte; sie konnte ihn erschießen, und er hatte keine Möglichkeit, sie daran zu hindern.

Sie erwiderte seinen Blick. In ihren Augen schimmerte ein Abglanz desselben mörderischen Blicks, den er in Khatyrgan gesehen hatte. Als könnte sie seine Furcht wittern und würde sie genießen.

Dann, mit einem Schlag, wurde ihr Blick weicher. Sie legte die Waffe auf die Kommode mit dem Fernseher, nahm stattdessen eine Tasse mit dampfendem Kaffee, ging zu ihm ans Bett und hielt ihm die Tasse wie ein Friedensangebot hin. Ihr Haar umrahmte locker ihr Gesicht, noch ein bisschen zerzaust und zerwühlt vom Schlaf. Ansonsten jedoch wirkte sie erholt und frisch.

Wie schön für sie.

Drake sah sie argwöhnisch an, bevor er schließlich die Tasse nahm und einen Schluck trank. Wenn sie ihn umbringen wollte, würde sie vermutlich kaum zu Gift greifen.

»Sie schlafen nicht besonders gut, stimmt’s?« Anya nahm ihre Tasse und trank ebenfalls einen Schluck. »Böse Träume?«

»Böse Erinnerungen«, erwiderte Drake und wich ihrem Blick aus.

Sie hatte genug Einfühlungsvermögen, um ihn nicht weiter unter Druck zu setzen. »Ich habe vorhin die E-Mails auf Ihrem Telefon überprüft. Noch ist keine Antwort von Typhoon gekommen.«

Drake hob eine Braue. »Wie ich sehe, sind Sie mittlerweile geradezu zum Technikfan geworden.«

Sie ignorierte diesen Seitenhieb. »Da er seit vier Jahren nichts von mir gehört hat, können wir wohl davon ausgehen, dass er seine E-Mails nicht mehr jeden Tag überprüft. Trotzdem sollten wir bald von hier verschwinden«, meinte sie. »Selbst wenn Cain und die anderen noch nichts von dem Vorfall an der Tankstelle erfahren haben, dürfte sich das bald ändern.«

Er war derselben Meinung. Die Frage war nur, wohin sollten sie sich wenden?

Gestern hatte er nur ans Überleben gedacht und lediglich versucht, aus dem unmittelbaren Suchgebiet herauszukommen. Möglicherweise war ihnen das gerade noch so eben gelungen, aber jetzt hatte er keine Vorstellung, wie sie weiter vorgehen sollten. Das Land zu verlassen würde gelinde gesagt problematisch werden.

»Die Flughäfen können wir vergessen«, erklärte er ohne Umschweife. »Wir haben keine Reisepässe und fast kein Geld mehr.«

Und selbst wenn er seinen Reisepass dabeigehabt hätte, hätte die Agency ihn sofort gesperrt. Jeder Versuch, ihn zu benutzen, hätte zu seiner sofortigen Verhaftung geführt und ihn auf eine Einbahnstraße zurück nach Langley gebracht. Ganz zu schweigen davon, dass Anya gar keinen Pass besaß.

Ihm fiel nur eine einzige Lösung ein, die einigermaßen realistisch war. »Wir können vielleicht versuchen, über die Grenze nach Mexiko zu kommen. Danach …« Er hob hilflos die Hände. »Entweder fangen wir an, Kunststücke aufzuführen, um Geld zu verdienen, oder wir polieren unsere Fertigkeiten als Bankräuber auf.«

Anya jedoch schien unbeeindruckt von den zahlreichen Problemen, die sich ihnen entgegenstellten. »Ich kenne da einen Mann, der uns helfen kann.«

Er hob eine Braue. »Wer genau ist das?«

Wieder warf sie ihm dieses wissende, rätselhafte Lächeln zu. »Kommen Sie, raus aus dem Bett!«, wich sie seiner Frage aus. »Dafür ist jetzt keine Zeit.«

Nach einem hastigen Frühstück, das aus belegten Bagels und Instantkaffee bestand, verließen sie das Zimmer, ohne sich mit dem Auschecken aufzuhalten. Sie hatten ohnehin im Voraus bezahlt, also würde ihre Abreise kaum unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.

Dann fuhren sie weiter, schweigend, nur begleitet von dem Rollgeräusch der Reifen und dem gedämpften Rauschen des Windes.

Drake hatte das Gefühl, dass Anya sich prächtig amüsierte. Sie hatte das Fenster heruntergefahren, die Lehne ihres Sitzes ganz weit nach hinten gestellt und die Füße auf das Armaturenbrett gelegt. Ihre Augen versteckte sie hinter ihrer neuen Sonnenbrille. Sie war die Verkörperung von Gelassenheit und Ruhe.

»Geht es Ihnen gut, ja?« Er konnte sich die Frage nicht verkneifen.

»Im Vergleich zu meinem Leben in den letzten Jahren ist das hier jedenfalls erheblich erfreulicher.«

Dagegen konnte er schwerlich etwas einwenden.

»Erzählen Sie mir etwas über sich, Drake«, meinte sie dann.

»Warum?«

»Wenn wir zusammenarbeiten wollen, ist es nur fair, dass wir beide uns ein wenig kennen. Sie scheinen bereits ziemlich viel über mich zu wissen, aber ich weiß nur sehr wenig über Sie.«

»So mag ich es.«

»Ich aber nicht.« Sie betrachtete ihn eine Weile. »Ich könnte natürlich auch ein bisschen herumraten …«

»Das kann ja heiter werden«, erwiderte er.

»Sie waren beim Militär, wahrscheinlich beim Special Air Service, jedenfalls nach der Taktik mit den Gleitschirmen zu urteilen, die Sie beim Angriff auf Khatyrgan angewendet haben«, begann sie. »Außerdem war das Messer Ihrer Ausrüstung SAS-Standard. Diese Kerbe am Handschutz soll die Klinge des gegnerischen Messers im Nahkampf festklemmen

Drake war beeindruckt, sowohl von ihrer Waffenkenntnis als auch davon, wie viele Einzelheiten sie in diesem hektischen Moment registriert hatte.

»Sie sind geschieden«, fuhr sie fort. »Man kann noch den Abdruck sehen, wo der Ring an Ihrem Finger gesessen hat. Er ist bereits verblichen, also muss es ein paar Jahre her sein. Und Sie haben im Moment keine Beziehung.«

»Woher wollen Sie denn das wissen?« Es ärgerte ihn, wie genau ihre Vermutungen ins Schwarze trafen.

»Sie haben keine Fotos in Ihrer Brieftasche. Ich habe nachgesehen, während Sie geschlafen haben.« Sie lächelte, als sie sein Unbehagen bemerkte. »Außerdem habe ich bemerkt, wie Sie mich letzte Nacht angesehen haben. Sie haben bereits eine ganze Weile nicht mehr mit einer Frau geschlafen.«

Er konnte nicht verhindern, dass ihm das Blut in die Wangen stieg. Jetzt verstand er auch, warum sie sich vor ihm ausgezogen hatte. Sie hatte seine Reaktion testen wollen.

»Haben Sie meine Facebook-Seite gelesen oder so etwas?«, konterte er.

Das verwirrte sie immerhin, wenn auch nur für einen Moment. »Was ist ein Facebook?«

»Schon gut«, sagte er. »Wenn Sie ohnehin alle Antworten schon kennen, wozu brauchen Sie mich dann noch?«

»Weil es einige Fragen gibt, auf die ich keine Antwort weiß. Wie kommt es zum Beispiel, dass ein Mann wie Sie für einen Mann wie Cain arbeitet?«

Eine Weile schwiegen sie beide, aber er spürte, wie sie ihn mit ihrem Blick durchbohrte.

»Ich arbeite nicht für Cain«, antwortete er schließlich. »Ich arbeite für Dan Franklin.«

»Der Mann mit dem kaputten Rücken?«

Drake nickte. »Wir haben zusammen in Afghanistan gedient. Wir gehörten zu einer Special Task Force, die die Aufgabe hatte, die üblen Jungs unter den Taliban gefangen zu nehmen. Wir wurden gute Freunde, und als ich irgendwann das Regiment verließ, hat er mir einen Job bei der Agency besorgt.«

»Warum sind Sie ausgeschieden?«

»Darüber möchte ich nicht reden«, erwiderte er gepresst. Es gab viele Dinge aus seiner Zeit bei der 14th Special Operations Group, auf die er nicht gerade stolz war. Ganz besonders die Art und Weise seines Ausscheidens. So etwas würde er auf keinen Fall einer Frau auf die Nase binden, die er kaum kannte.

Zu seiner Überraschung drängte sie ihn nicht weiter. »Wie es aussieht, haben wir beide Dinge, über die wir lieber nicht sprechen wollen.«

Um sein Unbehagen zu überspielen, schaltete Drake das Radio an. Es dauerte einen Moment, bis es sich auf die winzige Radiostation des Lokalsenders eingestellt hatte, aber dann strömten die Klänge von Bob Marleys »Three Little Birds« aus den Lautsprechern.

»Vielen Dank«, knurrte Drake und streckte den Finger nach der Taste für den Sendersuchlauf aus.

»Warten Sie«, bat Anya ihn.

Er warf ihr einen verblüfften Blick zu. Sie saß da, den Kopf gegen die Kopfstütze gelehnt, und ihr Haar peitschte durch die Luft, aufgewühlt von dem Fahrtwind, der durch das offene Fenster hereindrang. Sie hielt die Augen geschlossen. Auf ihrem Gesicht lag ein so friedlicher und heiterer Ausdruck, dass er es nicht über sich brachte, den Sender zu wechseln.

»Ich hätte Sie niemals für einen Fan von Bob Marley gehalten.«

»Das war das erste Lied, das ich hörte, als ich nach Amerika kam«, erklärte sie. »Man spielte es im Radio, auf meiner ersten Fahrt nach Langley. Der Fahrer fragte mich, ob es mir etwas ausmachte, wenn er es sich anhörte.« Sie lächelte schwach und ein wenig sehnsüchtig. »Ich war schockiert. Noch nie hatte mich jemand um Erlaubnis gebeten, etwas tun zu dürfen. Niemand hatte sich jemals darum gekümmert, was ich dachte oder was ich wollte. Es war das erste Mal, dass ich wirklich das Gefühl hatte … frei zu sein. Es fühlte sich gut an.«

Drake sagte nichts. Darauf gab es nichts zu sagen. Das Beste, was er tun konnte, war, den Mund zu halten und sie das Lied genießen zu lassen.

Nicht zum ersten Mal dachte er über seine seltsame, rätselhafte Passagierin nach. Wer sie wirklich war, woher sie kam und was wohl in Zukunft aus ihr werden würde.

Sie kamen gut voran und hielten nur einmal an einer Tankstelle in South Carolina, um zu tanken und die Toilette zu benutzen. Zum Glück waren diesmal keine ortsansässigen Schwachköpfe unterwegs, und so fuhren sie ohne Zwischenfall weiter. Drake hatte sich einen großen Becher Cappuccino geholt und seiner Beifahrerin eine Flasche Coke.

Sie fuhren ohne Stopp durch Georgia und überquerten am Nachmittag die Staatsgrenze nach Florida. Auf ihrem Weg nach Süden veränderte sich die Landschaft um sie herum; Bäume und Felder wichen Palmen und Sümpfen. Das Klima war jetzt subtropisch, mit hoher Luftfeuchtigkeit, drückend heißen Temperaturen und unberechenbarem Wetter.

Etwa eine Stunde nachdem sie Georgia verlassen hatten, öffneten sich die himmlischen Schleusen zu einem derartigen Wolkenbruch, dass Drake die Straße kaum noch erkennen konnte. Die Scheibenwischer konnten selbst auf der schnellsten Stufe diesen monsunartigen Wasserfall nicht bewältigen. Der Verkehr auf dem Highway kam nur noch im Schritttempo voran, während der Regen unablässig herunterprasselte.

Eine Viertelstunde später brannte die Sonne aus einem fast wolkenlosen Himmel auf sie herab. Der einzige Beweis für den intensiven Regenschauer war der dampfende Asphalt.

»Darf ich Sie etwas fragen?«, begann Drake.

Er hatte allmählich herausgefunden, dass es eine richtige und eine falsche Art gab, seiner Begleiterin Fragen zu stellen. Sie redete nicht gern allzu lange über sich, und sie beantwortete auch nicht gern zu viele Fragen hintereinander. Wenn er ihr zu stark zusetzte, zog sie sich in sich zurück und sagte gar nichts mehr. Dann ignorierte sie ihn einfach.

Man musste ihr Informationen vorsichtig entlocken, in kleinen Häppchen. Man musste ihr Zeit geben, die Fragen zu akzeptieren.

»Nein.«

»Was läuft da zwischen Ihnen und Cain?«

Sie setzte sich stocksteif auf. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Kommen Sie schon. Sie wissen genau, wovon ich rede. Sie sind nicht einfach irgendeine Operative für ihn, hab ich recht?«

Sie blieb lange stumm, und er fragte sich, ob sie ihn wieder mit Schweigen bestrafen wollte. »Er hat mich für die Agency rekrutiert«, meinte sie plötzlich, »als ich gerade erst nach Amerika gekommen war. Er gab mir eine Chance, als kein anderer das tun wollte, und im Laufe der Zeit haben wir gelernt, uns gegenseitig zu respektieren. Eine Weile glaubte ich, es gäbe nichts, was wir nicht zusammen erreichen könnten. Ich denke, sogar er hat das geglaubt … eine Zeit lang jedenfalls.«

»Waren Sie … befreundet?«

Sie drehte den Kopf zur Seite, aber er hatte den Ausdruck in ihren Augen wahrgenommen. »Wir standen uns nahe«, antwortete sie, ohne diese Feststellung näher zu erläutern.

»Was ist passiert?«

»Er war bereit, Kompromisse zu schließen. Ich nicht.«

Mehr sagte sie nicht, und er hütete sich nachzuhaken.