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Eine Stunde später fuhr Drake auf den Parkplatz eines riesigen Einkaufszentrums und schaltete den Motor ab. Sie befanden sich am Rand von Daytona, einer beliebten Touristenfalle am Ufer des Atlantiks und einem Mekka für NASCAR-Fans aus aller Welt. Aber Drake war nicht wegen der Rennen hier.

Sie brauchten Vorräte. Essen und Getränke waren bereits seit einiger Zeit aufgebraucht. Vor allem jedoch brauchten sie neue Kleidung. Anya hatte zwar einen Plan, wie sie an Geld und Reisepässe kommen konnten, aber damit er funktionierte, brauchte sie etwas Schickeres als Jeans und eine zerfetzte Lederjacke.

Und um das zu besorgen, hätte Drake sich keinen besseren Ort vorstellen können als das Einkaufszentrum, auf dessen Parkplatz sie gerade hielten. Es hatte die Größe einer Kleinstadt, und bestimmt gab es dort Dutzende von Geschäften mit preiswerter Kleidung. Sollte Anya hier nicht finden, was sie brauchte, hatten sie wirklich ein Problem.

Er stieg aus. Seine Beine waren steif vom langen Sitzen und schmerzten. Anya blieb im Wagen sitzen. Sie starrte das riesige Gebäude an wie ein Kaninchen, das vom Lichtkegel eines Autos gebannt wurde.

Drake schob den Kopf wieder ins Wageninnere. »Kommen Sie jetzt oder was?«

»Sollten wir nicht lieber ein kleineres Geschäft aufsuchen?« Sie wirkte beklommen und aufgeregt. »Wir sind doch unterwegs an etlichen Boutiquen vorbeigekommen.«

»Nur, wenn Sie ein T-Shirt mit der Aufschrift ›Ich-liebe-Spring-Break‹ und eine Mütze mit Bierreklame kaufen wollen«, antwortete er spöttisch. »Dieses Einkaufszentrum ist zwar groß, aber es ist gut besucht, und keiner kennt den anderen. Kurz, es ist genau das, was wir brauchen. Also kommen Sie schon.«

Anya fügte sich ins Unausweichliche, stieg aus und folgte ihm zu einem der vielen Eingänge. Sie wirkte wie ein mürrischer Teenager, der von seinem Vater mitgezerrt wird.

Sobald sie die Automatiktüren passiert hatten, befanden sie sich in einer klimatisierten Welt des organisierten Chaos. Das Einkaufszentrum hatte drei Ebenen, auf die man mit Rolltreppen und Aufzügen gelangte, und überall drängten sich Leute aller Altersschichten. Sicherheitsleute patrouillierten auf Segway-Elektrorollern durch das Center und flitzten wie Haie, die einen Fischschwarm umkreisen, um die Kunden herum.

Verkäufer an provisorischen Buden priesen enthusiastisch alles Mögliche an, von Handys über Luftballons bis hin zu Schokolade und Kosmetikartikeln. Ein großer Flugsimulator aus Plastik stand brummend da und schaukelte vor und zurück, wobei seine Bewegungen von entzückten Kinderschreien aus dem Inneren begleitet wurden. Aus einem Dutzend unterschiedlicher Lautsprecher plärrte Musik, die sich mit dem aufgeregten Geplapper der Menschen, dem Klingeln von Handys und Lautsprecherdurchsagen zu einem undifferenzierbaren Rauschen vermischte.

Drake warf einen Blick auf das Geschäfteverzeichnis des Einkaufszentrums und stellte fest, dass es wie ein riesiges Kruzifix aufgebaut war. Sie standen am Ende des westlichen Flügels. Der nächstgelegene Outlet-Store befand sich etwa in der Mitte dieses Flügels, auf der Ebene über ihnen.

»Also gut, los geht’s. Es sieht so aus, als würde uns J.C. Penney’s nur zu gern etwas von unserem Bargeld abnehmen«, sagte er und ging zur nächsten Rolltreppe.

Anya folgte ihm, aber ohne ihre übliche ruhige Selbstsicherheit. Der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer, als sie zunehmend langsamer wurde, was Drake jedoch in dem Chaos nicht bemerkte. Schließlich blieb sie stehen und sah sich staunend um.

Sie war überwältigt. So grimmig und quälend ihre Gefangenschaft in Khatyrgan auch gewesen war, die dort herrschende Monotonie hatte ihr eine gewisse Sicherheit gewährt. Die zwei mal drei Meter große Gefängniszelle hatte allmählich ihre ganze Welt umfasst. Und der Mangel an Reizen hatte ihre Empfindsamkeit selbst für kleinste Veränderungen geschärft, sodass sie sich ihrer Umgebung extrem bewusst gewesen war.

Hier jedoch passierte gleichzeitig so viel, dass ihr Gehirn damit schlichtweg überfordert war. Sie hatte schon früher keine stark bevölkerten Plätze gemocht und vor allem Einkaufszentren immer verabscheut. Ein Gefühl, das in den letzten Jahren noch stärker geworden war.

Sie fühlte Panik in sich aufsteigen, bekam kaum noch Luft, fühlte sich von den sie umgebenden Menschenmassen eingezwängt. Obwohl sich diese Menschen alle hinsichtlich Größe, Gestalt und Geschlecht voneinander unterschieden, vermischten sie sich für sie zu einer anonymen Masse. Nur sie blieb außerhalb. Sie war anders.

Ein junges Mädchen ging an ihr vorbei. Etwa einen Meter fünfzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer, dunkles Haar, keine sichtbaren Waffen. Es betrachtete Anya mit einer Mischung aus Neugier und Herablassung. Das Mädchen spürte, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmte. Es witterte jemanden, der anders war, und das gefiel ihm nicht.

Ein junger Mann in einem Anzug und einem Hemd mit offenem Kragen ging auf der anderen Seite an ihr vorbei. Er sprach in ein Handy und wäre fast gegen sie gestoßen. Instinktiv sprang sie zurück und musste sich beherrschen, um nicht schützend die Arme hochzureißen. Unwillkürlich taxierte sie seine mögliche Gefährlichkeit ein.

Männlich, Ende zwanzig, blond, schlank, knapp ein Meter achtzig, knapp hundertsechzig Pfund. Er bewegte sich nicht wie ein Kämpfer. War er bewaffnet? Er hätte durchaus eine Pistole in einem Gürtelhalfter hinten an der Taille tragen können.

Der Mann warf ihr einen gereizten Blick zu und trat um sie herum, aber ihm folgten andere. Überall waren andere.

Sie gehörte nicht hierher. Das wusste sie. Aber wussten die anderen es auch? Warfen sie ihr bereits argwöhnische Blicke zu, fragten sie sich, wer sie war und was sie hier tat? Anya hatte keine Ahnung. Normalerweise durchschaute sie Menschen mit Leichtigkeit, spürte, wenn sie beobachtet wurde; hier jedoch war das unmöglich.

Sie fühlte sich ausgeliefert, nackt, verletzlich. Sie hatte das Gefühl, als würde sie wieder auf diesem Boden in der Dusche liegen, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, sich zu schützen …

Nein!

Ihre Überlebensinstinkte erwachten. Sie drehte sich um, wollte flüchten, zögerte dann jedoch, weil sie nicht mehr wusste, woher sie gekommen war. Das Chaos um sie herum überwältigte sie. Sie konnte nicht richtig sehen. Sie war zwar groß für eine Frau, aber hier gab es überall Männer, die erheblich größer waren als sie selbst. Sie bildeten eine Mauer aus Fleisch, Knochen und bunter Kleidung, über die sie nicht hinwegblicken konnte. Sie konnte den Ausgang nicht sehen.

Du musst hier herauskommen!

Mach, dass du hier wegkommst!

Plötzlich tauchte eine Person mitten aus der gestaltlosen Masse um sie herum auf, kein ungeduldiger Käufer, der sich an ihr vorbeidrängen wollte, oder ein glotzender Teenager, sondern ein Mann, der sie kannte und der ihre Angst spürte und verstand.

Sie spürte Drakes Hand auf ihrem Arm und widersetzte sich nicht, als er sie zum Ausgang führte.

»Schon gut«, sagte er leise, während sie nebeneinander hergingen. »Ich bin ja hier.«

Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie den Drang zu weinen. Sie fürchtete sich, war verwirrt und verloren. Mehr als das, sie war wütend. Wütend auf Drake, weil er sie hierhergebracht hatte, wütend auf ihn, weil er ihr half und ihr das Gefühl gab, auf ihn angewiesen zu sein, wütend auf die Menschen um sie herum, die sie bedrängten, wütend auf sich selbst, weil sie so schwach und ängstlich war.

»Ich brauche frische Luft«, flüsterte sie. Mehr wagte sie nicht zu sagen.

Drake fühlte sich mies. Er hätte es eigentlich besser wissen müssen. Diese Frau hatte vier Jahre lang quasi in Isolationshaft verbracht sie sollte eine Therapie machen und sich nicht durch dicht bevölkerte Einkaufszentren kämpfen.

Aber sie hatte sich die meiste Zeit so hart und selbstbewusst gegeben, dass man leicht vergessen konnte, was sie durchgemacht hatte. Doch selbst Anya hatte ihre Grenzen, und er hatte sie gerade dazu gedrängt, sie zu überschreiten.

Du blöder Idiot!, dachte er. Sie hätte die Beherrschung verlieren, jemanden töten können.

Sie saß auf dem Beifahrersitz, den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Strähnen ihres blonden Haars wehten im Wind. Seit dem Verlassen des Einkaufszentrums hatte sie kein Wort gesagt.

Sie fuhren auf einer ruhigen Küstenstraße nach Süden, hatten die geschäftige, laute Stadt hinter sich gelassen. Links von ihnen erstreckten sich die schimmernden Gewässer des Atlantiks bis zum Horizont. Die endlos wogenden Wellen wurden nur gelegentlich von einer Jacht oder einem Surfer durchkreuzt.

»Anya, es … es tut mir leid«, begann er. »Mir hätte klar sein müssen …«

»Was hätte Ihnen klar sein müssen?«, fuhr sie ihn an. Sie hob den Kopf und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Dass ich schwach und jämmerlich bin? Dass ich es nicht einmal ertrage, durch ein verdammtes Einkaufszentrum zu gehen?« Sie blinzelte, wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf, um eine Haarsträhne loszuwerden, die ihr der Wind in die Augen geweht hatte.

»Sie sind nicht schwach. Glauben Sie mir, das sind Sie ganz und gar nicht.«

»Was bin ich dann, Drake?« Ihre Stimme zitterte. »Ich kann einen Mann mit bloßen Händen töten, nach Hause gehen und ohne Probleme einschlafen. Aber wenn ich über eine belebte Straße gehe, zittere ich wie ein verängstigtes Kind. Was geschieht da mit mir?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie den Kopf ab und blickte erneut aus dem Seitenfenster. »Halten Sie an.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte anhalten, Drake!«, schnauzte sie.

Er fuhr langsamer, fand eine kleine Parkbucht neben der Straße und hielt an. Sie befanden sich auf einem kaum belebten Abschnitt der Straße, an dem nur wenig Häuser lagen. Der riesige Strandabschnitt mit dem weißen Sand vor ihnen war praktisch menschenleer.

Anya verschwendete keine Zeit. Sobald der Wagen zum Stehen gekommen war, stieß sie die Tür auf und stieg aus. Dann ging sie davon, marschierte mit schnellen, zielstrebigen Schritten über den Strand, ohne zurückzublicken.

»Wo wollen Sie hin?«, rief Drake ihr nach.

Sie antwortete nicht.