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Miami-Dade County Police Department

»Sein Name ist Lewis Henderson«, erklärte der Polizeisergeant, als er mit Frost und Dietrich durch den Flur eilte. Die Sohlen ihrer Schuhe quietschten auf dem billigen Linoleumbelag. »Er arbeitet für eine britische Investmentbank. Gestern Abend hat ihn eine blonde Frau an der Hotelbar angesprochen. Sie hatte einen russischen Akzent. Sie gingen auf sein Zimmer, wo sie ihn mit einer Pistole bedroht und dann gefesselt im Badezimmer zurückgelassen hat.«

»Wie hat er sich bemerkbar gemacht?«, erkundigte sich Frost, die Mühe hatte, mit Dietrich Schritt zu halten. Trotz seines Humpelns kam er bemerkenswert schnell vorwärts.

»Das hat er nicht. Eigentlich hätte er heute auschecken sollen, aber er ließ sich nicht an der Rezeption blicken. Der Sicherheitsdienst hat ihn gefunden. Er war von Kopf bis Fuß mit Isolierband gefesselt. Wir haben ihn hierhergebracht, um seine Aussage aufzunehmen.«

»Wie lange ist das her?«, fragte Dietrich, ohne seine Schritte zu verlangsamen.

Der Sergeant warf einen Blick auf seine Uhr. »Etwa vier Stunden.«

»Verflucht!«, sagte Dietrich wütend. »Vier Stunden! Vier verdammte Stunden!«

Falls sich der Zwischenfall am Abend zuvor ereignet hatte, hatten Drake und Anya mittlerweile mehr als achtzehn Stunden Vorsprung. Vielleicht sogar weit mehr. Warum hatte das so lange gedauert?

Er deutete mit einem Finger auf die Tür des Verhörzimmers. »Lassen Sie uns da rein. Sofort!«

Henderson hockte wie ein bleiches Häufchen Elend mit einer Decke über den Schultern auf einem Stuhl. Eine unberührte Tasse Kaffee stand vor ihm auf dem Tisch.

Sein Kopf ruckte herum, als die Tür aufging und die beiden Operatives den Raum betraten. Er betrachtete Dietrich mit unverhohlener Angst, als befürchtete er, dass der Mann ihm im nächsten Moment mit der Pistole eins überziehen könnte.

»Guten Tag, Mr. Henderson. Ich heiße Jonas, und das hier ist Keira.« Er deutete auf seine Begleiterin. Er würde einem Zivilisten auf keinen Fall auf die Nase binden, dass sie für die CIA arbeiteten. »Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen wegen des Vorfalls gestern Nacht stellen.«

»Ich habe bereits alles gesagt, was ich weiß«, erwiderte Henderson. Seine Stimme klang weinerlich. »Ich habe kein Verbrechen begangen … ich bin hier das Opfer. Ich will einfach nur nach Hause.«

Frost stand neben Dietrich und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Sie verachtete Schwäche und offen zur Schau gestellte Verletzlichkeit bei anderen Menschen, vor allem bei Männern.

»Sie dürfen auch nach Hause, Mr. Henderson«, versprach ihm Dietrich. »Aber zuerst müssen Sie unsere Fragen beantworten. Schaffen Sie das?«

Henderson biss sich auf die Lippe, nickte aber schließlich.

»Gut. Also, laut Ihrer Zeugenaussage wurden Sie von der Verdächtigen an der Bar Ihres Hotels angesprochen. Können Sie die Frau beschreiben?«

»Sie war groß … und schlank. Sie hatte blondes Haar und blaue Augen. Ihre Haut war zwar ziemlich blass, aber die Frau war trotzdem sehr schön.«

»Wie alt war sie?«, erkundigte sich Frost.

»Ich … weiß es nicht. Das war schwer zu schätzen. Sie war zwar nicht mehr blutjung, aber auch nicht alt. Vielleicht Ende dreißig oder Anfang vierzig.«

»Hatte sie einen Akzent?«, fuhr Dietrich fort.

Der Mann nickte. »Russisch oder osteuropäisch. Ich bin zwar kein Experte, was Sprachen angeht, aber es war eindeutig ein Akzent aus dieser Gegend.«

»Was ist passiert, nachdem Sie sich kennengelernt haben?«

»Wir haben ein paar Drinks zu uns genommen, und nach einer Weile sind wir in mein Zimmer hinaufgefahren.« Er schüttelte sich, als er sich daran erinnerte. »Dort hat sie mich mit der Waffe bedroht. Ich musste mich hinlegen, dann hat sie mich im Badezimmer gefesselt.«

Das klang alles ziemlich gefasst und fast akademisch nüchtern.

»Hat sie irgendetwas mitgenommen?«, erkundigte sich Frost.

»Meine Brieftasche und meine Brille«, setzte er hinzu, als wäre ihm das erst nachträglich eingefallen.

Dietrich runzelte die Stirn. Anya hätte sich nicht diese Mühe gemacht, nur um an ein paar Dollar zu kommen. Dahinter musste mehr stecken.

»Mehr nicht?«

Der Mann dachte einen Augenblick nach. »Ich habe nicht gesehen, was sie getan hat, aber ich habe gehört, wie sie das Zimmer durchsuchte. Sie hat ganz eindeutig etwas gesucht.« Dann leuchteten seine Augen auf, als ihm etwas einfiel. »Der Safe!«

»Was ist damit?«

»Ich habe gehört, wie sie den Code eingegeben hat. Ich habe die Tastentöne gehört. Ich weiß nicht, woher sie den Code kannte, aber es muss funktioniert haben, denn ich habe gehört, wie die Safetür sich öffnete.«

Dietrich beugte sich vor. »Was war in dem Safe?«

»Mein Reisepass.«

Das genügte. Dietrich sprang auf und stürmte aus dem Raum, dicht gefolgt von Frost.

»Verdammter Mist!«, zischte Dietrich. Er war wütend auf sich, weil er nicht früher darauf gekommen war. Trotz seines mitgenommenen und kläglichen Zustandes war Hendersons Ähnlichkeit mit Drake offensichtlich, ein Umstand, der Dietrich sofort aufgefallen war. Die Ähnlichkeit der beiden Männer genügte ganz gewiss auch, um Drake durch die Passkontrolle zu bringen.

»Sie hat vor, mit Drake das Land zu verlassen«, folgerte Frost.

»Wenn sie es nicht schon längst getan hat«, knurrte Dietrich. »Ich Vollidiot! Ich hätte das vorhersehen müssen!«

Er zog ungeduldig sein Handy aus der Tasche und tippte Franklins Nummer ein, der schon nach dem ersten Klingeln abnahm.

»Sprechen Sie, Jonas.«

»Sie war hier. Miami International. Sie hat einem britischen Geschäftsmann den Reisepass gestohlen, einem gewissen Lewis Henderson. Einzelheiten finden Sie im Polizeibericht. Name und Reisepass müssen sofort auf die Fahndungsliste gesetzt werden. Und fragen Sie bei der Homeland Security nach, ob dieser Reisepass in den letzten vierundzwanzig Stunden benutzt worden ist.«

Franklin hütete sich zu widersprechen. Und er beabsichtigte auch nicht, Dietrich wegen seines brüsken Tons zurechtzuweisen. »Wir kümmern uns darum. Ich verständige Sie, sobald wir etwas wissen.«

»Beeilen Sie sich, Dan. Das könnte unsere letzte Chance sein.«

Er beendete das Gespräch, schloss die Augen, lehnte sich mit der Schulter an die Wand und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er hatte das Gefühl, als würde sein Verstand nur mit halber Kraft arbeiten. Rein körperlich ging es ihm besser, da die Nebenwirkungen des Entzugs allmählich abklangen, aber sein Gehirn ließ ihn im Stich. Er übersah Dinge, die eigentlich offensichtlich waren.

Was übersah er sonst noch?

»Worüber denken Sie nach?«, erkundigte sich Frost.

»Über eine ganze Menge.«

Sie verzog das Gesicht. »Und worüber genau?«

Er seufzte und öffnete die Augen wieder. »Anya wusste, dass Henderson früher oder später gefunden werden würde. Sie hätte ihn töten können, damit er nicht redete, aber das hat sie nicht getan. Sie hat ihn am Leben gelassen.«

Frost zuckte mit den Schultern. »Das Hotel war ziemlich gut besucht.«

»Haben Sie vergessen, was auf dem Rückflug von Russland passiert ist?«, fragte er. »Sie ist durchaus in der Lage, jemanden lautlos und mit bloßen Händen zu töten.«

Die Miene der jungen Frau verfinsterte sich. Sie wusste nur zu gut, wozu Anya fähig war. Und sie wurde nicht gern an den Moment erinnert, als die Frau ihr eine scharfe Glasscherbe an die Kehle gehalten hatte.

»Worauf zum Teufel wollen Sie hinaus, Dietrich?«

Genau das war die Frage, und er wusste noch keine Antwort darauf. Aber irgendetwas an dieser ganzen Situation stank zum Himmel. Was führten die beiden im Schilde? Wohin genau wollten sie? Und was hatten sie vor, wenn sie dort waren?

Seine verwirrten und chaotischen Gedanken wurden vom Summen seines Handys unterbrochen. Verdammt, das ging aber schnell.

»Dietrich.«

»Sir, wir haben den Reisepass überprüft, wie Sie verlangt haben.« Am anderen Ende war dieser junge Analytiker, dieser Sinclair. Dietrich erinnerte sich an den Namen.

»Lassen Sie hören, Sinclair.«

»Der Reisepass wurde heute Morgen um neun Uhr beim Einchecken für einen internationalen Flug benutzt.«

Dietrich schwante Böses. »Mit welchem Ziel?«

»Riad, Saudi-Arabien.«