Buch

Matti und sein schweigsamer Freund Niila wachsen auf in einem kleinen Dorf im äußersten Norden Schwedens, fernab der wirklichen Welt. Es sind die wilden sechziger Jahre, doch das Leben im Tornedal wird weniger durch Rebellion als durch die unwirtliche Landschaft, den kauzigen Eigensinn seiner Bewohner und die religiöse Bewegung des Laestadianismus geprägt, die durch extreme Strenge und Lustfeindlichkeit besticht. Kein Wunder, dass die beiden Kinder schon früh nichts anderes im Kopf haben, als sich wegzuträumen von diesem Ort, der zwar viele Geschichten zu erzählen hat, aber auch unvermutete Gefahren in sich birgt. Als der Rock’n’Roll Einzug hält im kleinen Tal, ist ihre Zeit gekommen ...

Ein großartiges, eindringliches Buch mit einer unverwechselbaren Handschrift: Niemis Sprache ist so wild und zärtlich, wie die Menschen aus dem hohen Norden, die er beschreibt - seine Geschichte so rasant, ausgelassen und dramaturgisch geschickt, dass einem Hören und Sehen vergeht ...

Autor

Mikael Niemi, Jahrgang 1959, ist der erfolgreiche Autor zweier Gedichtsammlungen und einer Reihe von Kinder- und Jugendbüchern. »Populärmusik aus Vittula« ist sein lange erwarteter erster Roman, der in Schweden zu einem Triumph sondergleichen für ihn wurde: vielfach preisgekrönt, mit über 500000 verkauften Exemplaren monatelang auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Wie Schwedens Kritiker einhellig befanden, hat es in den letzten Jahren kein Buch gegeben, durch das sie tiefer berührt wurden - und bei dem sie gleichzeitig so viel zu lachen hatten.

PROLOG

Der Erzähler wacht auf, beginnt den Berg zu besteigen und macht sich auf dem Thorong La-Pass lächerlich, woraufhin die Erzählung ihren Lauf nehmen kann.

Die Nacht in dem engen Bretterverschlag war saukalt. Als mein Reisewecker anfing zu piepsen, setzte ich mich mit einem Ruck auf, knüpfte das kleine Gesichtsfenster im Schlafsack auf und schob einen Arm in die kohlrabenschwarze Finsternis hinaus. Meine Finger tasteten in dem kalten Luftzug, der durch die Bretterritzen drang, zwischen Splittern und Sandkörnern immer weiter über die ungehobelten Bodenbretter, bis sie das kalte Plastik des Weckers und den Knopf zum Ausstellen fanden.

Eine Weile blieb ich still liegen, halb betäubt, mich an einem Baumstamm festklammernd, einen Arm ins Meer getaucht. Stille. Kälte. Kurze Atemzüge in der dünnen Luft. Im Körper spürte ich einen physischen Schmerz, als hätte ich die ganze Nacht mit angespannten Muskeln dagelegen.

Genau in diesem Moment sah ich ein, dass ich tot war.

Das Erlebnis ist schwer zu beschreiben. Es war, als würde der Körper entleert. Ich wurde zu Stein, zu einem unendlich großen, nasskalten Meteoriten. Und eingebettet tief in diesem Hohlraum lag etwas Fremdes, etwas Längliches, Weiches, Organisches. Eine Männerleiche. Sie gehörte nicht zu mir. Ich war aus Stein, ich umschloss nur diese erkaltete Gestalt wie ein riesiger, fest geschlossener Granitsarkophag.

Es dauerte zwei, höchstens drei Sekunden.

Dann knipste ich meine Taschenlampe an. Das Ziffernblatt des Weckers zeigte Null und Null. Einen unheimlichen Moment lang befürchtete ich, dass die Zeit still stehe, dass sie nicht länger gemessen werden könnte. Dann aber wurde mir klar, dass es mir gelungen war, die Uhr auf Null zu stellen, als ich nach dem Aus-Knopf suchte. Meine Armbanduhr zeigte zwanzig Minuten nach vier in der Früh. Um das Atemloch des Schlafsacks hatte sich eine dünne Schicht Raureif gebildet. Es herrschten Minusgrade, obwohl ich mich drinnen befand. Ich wappnete mich gegen die Kälte und schlängelte mich vollkommen angezogen aus dem Schlafsack, und schob dann meine Füße in die eiskalten Wanderstiefel. Mit leichtem Unbehagen verstaute ich mein leeres Schreibheft im Rucksack. Auch heute nichts. Kein Entwurf, nicht die kleinste Notiz.

Den Metallhaken der Tür geöffnet und hinaus in die Nacht. Der Sternenhimmel breitete seine Unendlichkeit aus. Eine Mondsichel schaukelte wie ein Ruderboot am Horizont, die Riesen des Himalaya ließen sich in alle Richtungen als spitze Silhouetten erahnen. Das Sternenlicht war so stark, dass es förmlich den Boden begoss, scharfe weiße Strahlen durch ein riesenhaftes Sieb rinnen ließ. Ich warf mir den Rucksack über, und schon diese kleine Anstrengung brachte mich zum Keuchen.

Der Sauerstoffmangel ließ kleine Sternchen vor meinen Augen tanzen. Der Höhenhusten presste sich durch meine Kehle, trockenes Bellen, 4400 Meter über dem Meeresspiegel. Vor mir konnte ich den Pfad erkennen, der steil die steinige Bergwand hinauflief, bis er in der Dunkelheit verschwand. Langsam, ganz langsam begann ich zu klettern.

Der Thorong La-Pass, im Annapurnamassiv in Nepal. Höhe: 5415 Meter. Ich habe es geschafft. Endlich bin ich oben! Die Erleichterung ist so groß, dass ich mich auf den Rücken fallen lasse und nur noch keuche. Die Beine brennen vor Muskelkater, der Kopf pocht und schmerzt im ersten Stadium der Höhenkrankheit. Das Tageslicht ist beunruhigend gescheckt. Ein plötzlicher Windstoß kündigt schlechteres Wetter an. Die Kälte beißt in die Wangen, und ich sehe, wie eine Hand voll Bergstei-ger eilig ihre Rucksäcke schultert und den Abstieg nach Mukti-nath beginnt.

Ich bleibe allein zurück. Kann es nicht über mich bringen, einfach so zu gehen, noch nicht. Immer noch außer Atem setze ich mich auf. Stütze mich an der Gipfelmarkierung mit ihren flatternden tibetanischen Gebetswimpeln ab. Der Pass besteht nur aus Felsen, ein steriler Kiesgrat ohne jede Vegetation. Auf beiden Seiten steigen die Gipfel empor, schwarze, raue Fassaden mit himmelweißen Gletschern.

Die ersten Schneeflocken peitschen in Windböen gegen die Jacke. Weniger schön. Wenn der Weg wieder einschneit, wird es gefährlich. Ich spähe nach hinten, aber es sind keine weiteren Wanderer mehr zu sehen. Ich sollte schauen, dass ich nach unten komme.

Aber jetzt noch nicht. Ich stehe auf dem höchsten Punkt, auf dem ich mich jemals befunden habe. Zunächst einmal muss ich Abschied nehmen. Zunächst einmal muss ich jemandem danken. Ein Impuls überkommt mich, ich lasse mich bei dem Gipfelstein auf die Knie fallen. Fühle mich zwar etwas lächerlich, aber ein weiterer Rundblick bestätigt, dass ich allein bin. Schnell beuge ich mich vor wie ein Moslem, den Hintern in der Luft, falle nach vorn und murmle ein Dankgebet. Und da gibt es eine Metallplatte mit eingravierten tibetanischen Buchstaben, eine Schrift, die ich nicht lesen kann, die aber Ernst und Frömmigkeit ausstrahlt, und ich beuge mich noch weiter hinunter und küsse den Text.

Das ist der Augenblick, in dem die Erinnerung sich mir öffnet. Ein Schwindel erregender Schacht hinab in meine Kindheit. Ein Rohr durch die Zeit, durch das jemand eine Warnung ruft, doch es ist zu spät.

Ich sitze fest.

Meine feuchten Lippen sind an einer tibetanischen Gebetsplatte festgefroren. Und als ich versuche, mich mit der Zunge zu befreien, friert auch sie an.

Jedes Kind in Norrland hat das wohl schon einmal erlebt. Ein eisiger Wintertag, ein Brückengeländer, ein Laternenpfahl, ein überfrorenes Stück Eisen. Meine Erinnerung ist plötzlich glasklar. Ich bin fünf Jahre alt und lecke mich am Türschloss am Eingang in Pajala fest. Zunächst grenzenlose Verblüffung. Ein Türschloss, das problemlos mit Handschuhen oder einem nackten Finger berührt werden kann. Jetzt zu einer teuflischen Falle geworden. Ich versuche zu schreien, aber das ist nicht so einfach, wenn die Zunge festgefroren ist. Ich rudere mit den Armen, versuche mich mit Gewalt zu befreien, muss aber wegen der Schmerzen aufgeben. Die Kälte führt dazu, dass die Zunge taub wird, ein Geschmack nach Blut füllt den Mund. Verzweifelt trete ich gegen die Tür und stoße desperat aus:

»Ääähhh, ääähhh .«

Da kommt Mutter. Sie kippt eine Schale warmes Wasser über meinen Mund, das Wasser läuft übers Schloss, meine Lippen kommen frei. Hautfetzen bleiben auf dem Metall zurück, und ich schwöre, dass mir so was nie wieder passiert.

»Ääähhh, ääähhh«, murmle ich, während der Schnee jetzt dichter fällt. Niemand hört mich. Sollten noch ein paar Wanderer auf dem Weg nach oben sein, kehren sie jetzt mit Sicherheit um. Mein Hintern ragt in die Höh, der Wind bläst kräftig und kühlt ihn. Mein Mund verliert langsam das Gefühl. Ich ziehe mir die Handschuhe aus und versuche mich mit der Wärme der Hände loszueisen, stoße keuchend warmen Atem heraus. Aber es ist zwecklos. Das Metall saugt die Wärme auf, bleibt selbst aber gleich bleibend kalt. Ich versuche aufzustehen, die Metallplatte loszuruckeln. Aber sie ist festgegossen, bewegt sich keinen Millimeter. Der kalte Schweiß macht mir den Rücken nass. Der Wind zwängt sich unter das Jackenbündchen und lässt mich erschauern. Tief liegende Wolken ziehen herauf und hüllen den Pass in Nebel ein. Gefährlich. Verdammt gefährlich. Die Panik wird immer größer. Ich werde hier sterben. Festgefroren an eine tibetanische Gebetsplatte werde ich niemals die Nacht überstehen können.

Es gibt nur noch eine Möglichkeit. Ich muss mich losreißen.

Bei dem Gedanken wird mir schlecht. Aber ich habe keine andere Wahl. Zerre zunächst ein bisschen zur Probe. Spüre den Schmerz bis in die Zungenwurzel hinein. Eins ... zwei ... und die letzte Zahl heißt ...

Rot. Blut. Und ein Schmerz, der mich mit der Stirn gegen die Metallplatte schlagen lässt. Es geht nicht. Der Mund sitzt immer noch so bombenfest wie vorher. Ich verliere noch mein Gesicht, wenn ich härter aufschlage.

Ein Messer. Wenn ich wenigstens ein Messer hätte. Ich taste mit dem Fuß nach dem Rucksack, aber der liegt mehrere Meter weit entfernt. Vor Angst krampft sich mein Magen zusammen, fast entleert sich schon die Blase in der Hose. Ich öffne den Reißverschluss und bereite mich darauf vor, auf allen vieren zu pissen, wie eine Kuh.

Doch da halte ich inne. Nehme meinen Trinkbecher, der am Gürtel hängt. Pisse den Becher voll und gieße mir anschließend den Inhalt über den Mund. Es läuft mir über die Lippen, schmilzt, und nach wenigen Sekunden bin ich frei.

Ich habe mich freigepisst.

Ich stehe auf. Meine Gebetsstunde ist vorbei. Zunge und Lippen sind starr und schmerzen. Aber ich kann sie wieder bewegen. Endlich kann ich anfangen zu erzählen.

KAPITEL 1

- in dem Pajala den Schritt in die Gegenwart tut, Musik entsteht und zwei kleine Jungs sich mit leichtem Gepäck auf den Weg machen.

Es war Anfang der Sechzigerjahre, da wurde unser Viertel in Pajala asphaltiert. Ich war fünf Jahre alt und hörte das Dröhnen, als sie sich näherten. An unserem Haus vorbei kroch eine Kolonne panzerähnlicher Fahrzeuge, die den holprigen und löchrigen Kiesweg zu durchwühlen begannen. Es war im Frühsommer. Männer in Overalls liefen breitbeinig umher, spuckten Kautabak aus, schlugen mit den Stecheisen zu und murmelten etwas auf Finnisch, während die Hausfrauen neugierig hinter den Gardinen standen. Für einen kleinen Knirps war das höchst spannend. Ich hing am Bretterzaun, guckte durch die Latten hindurch und sog den Dieselqualm dieser gepanzerten Wunderdinger in mich hinein. Sie verbissen sich in den gewundenen Dorfweg, als wäre es ein alter Kadaver. Ein Lehmweg mit unzähligen kleinen Kuhlen, die sich bei Regen sofort anfüllten, ein pockennarbiger Rücken, der bei Tauwetter wie Butter dahinschmolz und der im Sommer wie ein Hackfleischteig gesalzen wurde, damit der Staub gebunden wurde. Ein Kiesweg war altmodisch. Der gehörte in die vergangene Zeit, in der unsere Eltern geboren worden waren, die sie aber letztendlich dann doch hinter sich lassen wollten.

Unser Viertel wurde im Volksmund Vittulajänkkä genannt, was in der Übersetzung Fotzenmoor bedeutet. Der Ursprung des Namens war unklar, kam aber sicher daher, dass hier so viele Kinder geboren wurden. In vielen der Hütten gab es fünf Kinder, manchmal auch mehr, und der Name wurde zu einer Art

Lobgesang der weiblichen Fruchtbarkeit. Vittulajänkkä, oder Vittula, wie es abgekürzt wurde, war von den Mitgliedern ärmerer Familien bevölkert, die in den Hungerjahren in den Dreißigern aufgewachsen waren. Dank harter Arbeit und der Hochkonjunktur war man aufgestiegen und hatte Geld für ein richtiges Haus aufnehmen können. Schweden blühte, die Wirtschaft wuchs, und sogar Tornedalen wurde vom Fortschrittsrausch mitgerissen. Die Entwicklung war so überraschend schnell gekommen, dass man sich immer noch arm fühlte, obwohl man doch reich geworden war. Ab und zu kam die Befürchtung auf, alles könne einem wieder genommen werden. Die Hausfrauen dachten hin und wieder voller Schaudern hinter ihren selbst genähten Gardinen, wie gut man es doch getroffen hatte. Man hatte ein ganzes Haus für sich selbst und seine Nachkommenschaft. Man konnte es sich leisten, Kleidung zu kaufen, die Kinder mussten nicht mehr in Lumpen und Gestopftem herumlaufen. Man hatte sogar ein Auto. Und jetzt würde auch noch der Kiesweg verschwinden, jetzt würde das alles mit ölschwarzem Asphalt gekrönt werden. Die Armut würde in eine schwarze Lederjacke gekleidet. Es war die Zukunft, die hier geschaffen wurde, glatt wie eine Wange. Hier würden die Kinder auf ihren neuen Fahrrädern dem Wohlstand und der Ingenieursausbildung entgegenradeln können.

Die Hinterlader brüllten und brummten. Die Lastwagen streuten Kies. Die Dampfwalzen drückten das Straßenbett unter ihren gewaltigen Stahlzylindern mit einem Gewicht zusammen, das so unfassbar war, dass ich meinen fünfjährigen Fuß drunterschieben wollte. Stattdessen warf ich große Steine vor die Walze, lief hin und suchte sie, nachdem das Fahrzeug vorbeigefahren war, aber die Steine waren verschwunden. Sie waren auf geradezu magische Weise fort. Das war gleichzeitig gruselig und faszinierend. Ich legte meine Hand auf die plattgewalzte Oberfläche. Sie fühlte sich sonderbar kalt an. Wie konnte so rauer Kies glatt wie ein Laken gebügelt werden? Ich warf eine Gabel aus der

Küchenlade hin und dann meine Plastikschaufel, und auch die verschwanden spurlos. Und noch heute bin ich mir nicht sicher, ob diese Dinge wirklich dort in dem Straßenbett liegen oder ob sie sich nicht tatsächlich auf irgendeine magische Art aufgelöst haben.

Zu dieser Zeit kaufte meine große Schwester ihren ersten Plattenspieler. Wenn sie noch in der Schule war, schlich ich mich in ihr Zimmer. Er stand auf ihrem Schreibtisch, ein technisches Wunderwerk aus schwarzem Plastik, ein glänzender kleiner Kasten mit einem durchsichtigen Deckel, der merkwürdige Knöpfe und Regler verbarg. Rund herum lagen Lockenwickler, Lippenstift und Spraydosen. Alles war modern, ein unnötiger Luxus, alles ein Zeichen unseres Reichtums und ein Versprechen auf eine Zukunft in Überfluss und Wohlstand. In einem Lackkästchen lagen Stapel mit Kinokarten und Fotos von Filmsternchen. Meine Schwester sammelte die Eintrittskarten und hatte einen großen Stapel von Wilhelmssons Kino. Auf die Rückseite schrieb sie den Filmtitel, die Hauptdarsteller und eine Note.

Auf ein Plastikgestell, das aussah wie ein Abtropfgestell für Geschirr, hatte sie ihre einzige Single gestellt. Ich hatte ihr hoch und heilig versprochen, nicht einmal drauf zu hauchen. Jetzt ergriff ich sie mit zitternden Fingern, strich über die glänzende Hülle, auf der ein fescher Jüngling Gitarre spielte. Eine schwarze Haarlocke hing ihm in die Stirn, er lächelte und erwiderte meinen Blick. Vorsichtig, ganz vorsichtig holte ich das schwarze Vinyl heraus. Sorgsam hob ich den Deckel des Plattenspielers. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie meine Schwester es getan hatte, und legte die Scheibe auf den Plattenteller. Schob das große Singleloch auf den Mittelstutzen. Und mit einer Erwartung, die mir den Schweiß ausbrechen ließ, schaltete ich den Strom ein.

Der Plattenteller zuckte und begann sich zu drehen. Es war unerträglich spannend, ich musste den Impuls unterdrücken, einfach davonzulaufen. Mit plumpen Jungsfingern packte ich den Wurm, den schwarzen, steifen Tonabnehmer mit seinem Giftzahn, grob wie ein Zahnstocher. Dann senkte ich ihn auf das surrende Plastik hinab.

Es knisterte wie Speck in der heißen Pfanne. Und ich wusste, dass etwas kaputtgehen würde. Ich hatte die Scheibe kaputtgemacht, man würde sie nie wieder spielen können.

»BAM-BAM ... BAM-BAM .«

Nein, da kam es! Kräftige Akkorde. Und dann Elvis’ fiebrige Stimme.

Ich blieb wie versteinert stehen. Vergaß zu schlucken, merkte nicht, dass es von der Unterlippe tropfte. Ich fühlte mich butterweich, alles drehte sich mir im Kopf, ich vergaß sogar zu atmen.

Das war die Zukunft. So klang sie. Musik, die dem Stampfen der Straßenbaufahrzeuge ähnelte, ein Gerassel, das kein Ende nahm, ein Lärm, der auf den purpurroten Sonnenuntergang am Horizont verwies.

Ich beugte mich vor und schaute aus dem Fenster. Draußen auf der Straße rückte ein Lastwagen vor, und ich sah, dass sie mit dem endgültigen Belag anfingen. Aber das war kein schwarzer, lederglänzender Asphalt, den sie da auskippten. Sondern Ölschotter. Staubgrauer, holpriger, hässlicher, verdammter Ölschotter.

Auf dem sollten wir Dummköpfe in die Zukunft radeln.

Als die Maschinen sich endlich zurückgezogen hatten, machte ich kleine, vorsichtige Ausflüge in die Nachbarschaft. Mit jedem Schritt wuchs meine Welt. Die neubelegten Straßen führten weiter zu anderen neugeteerten Straßen, Grundstücke breiteten sich wie belaubte Parks aus, riesenhafte Hunde zerrten an ihren rasselnden Laufleinen und kläfften mich an. Und je weiter ich ging, umso mehr gab es zu sehen. Die Welt nahm kein Ende, sie weitete sich die ganze Zeit aus, und ich spürte einen Schwindel, der fast an Übelkeit grenzte, als ich verstand, dass man immer, immer weiter gehen konnte. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte Papa, der gerade unseren neuen Volvo PV wusch:

»Wie groß ist die Welt?«

»Ziemlich groß«, sagte er.

»Aber irgendwo muss sie doch zu Ende sein?«

»In China.«

Das war eine klare Antwort, die es mir leichter ums Herz machte. Wenn man nur lange genug lief, so fand man das Ende. Und das lag im Reich dieser schlitzäugigen Tschingtschangt-schongmenschen auf der anderen Seite der Welt.

Es war Sommer und brütend heiß. Mein Hemd wurde nass von dem tropfenden Eis, das ich leckte. Ich verließ unseren Hofplatz, verließ die Sicherheit. Ab und zu warf ich einen Blick zurück, aus Angst, mich zu verlaufen.

Ich begab mich zu dem Spielplatz, der eigentlich nur eine alte Graswiese war, die mitten im Ort zurückgeblieben war. Die Gemeinde hatte ein Schaukelgerüst auf dem Gras zusammengeschustert, und ich ließ mich auf dem schmalen Sitzbrett nieder. Eifrig begann ich die Ketten zu bearbeiten, um an Fahrt zu gewinnen.

Im nächsten Moment bemerkte ich, dass mich jemand beobachtete. Da saß ein Typ auf der Rutschbahn. Ganz oben, als ob er im nächsten Moment herunterrutschen wollte. Aber er zögerte, unbeweglich wie ein Raubvogel, und betrachtete mich mit weit aufgerissenen Augen.

Ich war auf der Hut. Der Junge hatte etwas Unangenehmes an sich. Er konnte nicht dort gesessen haben, als ich kam, und es schien, als wäre er aus heiterem Himmel aufgetaucht. Ich versuchte, ihn nicht weiter zu beachten, schaukelte stattdessen so hoch, das die Ketten in meinen Händen schlaff wurden. Schweigend schloss ich die Augen und spürte das Kribbeln im Bauch, während es immer schneller nach unten ging, und dann flog ich wieder hinauf ins Licht auf der anderen Seite.

Als ich die Augen öffnete, saß er in der Sandkiste. Als wäre er mit ausgebreiteten Flügeln dorthin geflogen, ich hatte keinen einzigen Laut gehört. Immer noch betrachtete er mich mit intensivem Blick, den Oberkörper halb abgewandt.

Ich gab keinen Schwung mehr und ließ die Schaukel langsam auspendeln. Schließlich sprang ich ins Gras hinunter, machte einen Purzelbaum und blieb liegen. Starrte in den Himmel. Die Wolken zogen weiß über den Fluss. Sie sahen aus wie große, wollige Schafe, die sich im Wind zum Schlafen gelegt hatten. Als ich erneut die Augen schloss, sah ich kleine Wesen, die sich auf der Innenseite meiner Augenlider bewegten. Kleine schwarze Punkte, die über eine rote Haut krabbelten. Als ich die Augen fester zukniff, entdeckte ich violett gefärbte Kerle in meinem Bauch. Sie kletterten übereinander und bildeten ein Muster. Auch hier gab es Tiere, auch das war eine Welt, die es zu entdecken galt. Ein Schwindel erregendes Gefühl packte mich, die Einsicht, dass die Welt aus Unmengen von Tüten bestand, die alle übereinander gestülpt waren. Durch wie viele Schichten man sich auch hindurchzwängte, es gab immer noch eine neue.

Ich öffnete die Augen und hielt die Luft vor Überraschung an. Der Junge lag neben mir. Er hatte sich dicht neben mir ausgestreckt, so dicht, dass ich seine Wärme spüren konnte. Sein Gesicht war sonderbar klein. Der Kopf an sich war normal, aber seine Gesichtszüge drängten sich auf einem viel zu kleinen Platz zusammen. Wie das Gesicht einer Puppe, festgeleimt auf einem großen, lederbraunen Fußball. Die Haare waren unregelmäßig geschnitten, offensichtlich nicht vom Friseur, der Schorf einer Schramme auf der Stirn würde bald abfallen. Er kniff ein Auge zusammen, das obere, um die Sonne einzufangen. Das andere lag unten im Gras, weit aufgerissen, mit einer riesigen Pupille, in der ich mein eigenes Spiegelbild sehen konnte.

»Wie heißt du?«, wollte ich wissen.

Er gab keine Antwort. Bewegte sich nicht.

»Mikäs sinun nimi on?«, wiederholte ich auf Finnisch.

Jetzt öffnete er den Mund. Es wurde kein Lächeln, aber man sah die Zähne. Sie waren gelb, mit einem alten Speiserestefilm bedeckt. Er steckte den kleinen Finger in ein Nasenloch, die übrigen Finger wären zu dick gewesen, hätten nicht reingepasst. Ich tat es ihm gleich. Wir gruben beide unsere Popel aus. Er steckte sie in den Mund und schluckte. Ich selbst zögerte. Da schnappte er sich meinen Happen und schluckte auch ihn hinunter.

Mir war klar, dass er mein Freund werden wollte.

Wir setzten uns im Gras auf, und ich wollte ihn auch so richtig beeindrucken.

»Man kann überall hingehen!«

Er hörte konzentriert zu, aber ich war mir nicht sicher, ob er verstanden hatte.

»Sogar nach China«, fuhr ich fort.

Um zu zeigen, dass ich es ernst meinte, begann ich die Straße entlangzugehen. Frischen Mutes, mit einem aufgesetzt pompösen Selbstvertrauen, das meine Nervosität verbergen sollte. Er folgte mir. Wir gingen bis zu dem gelben Pfarrhaus. Auf der Straße davor stand ein Bus, der gehörte sicher irgendwelchen Touristen, die die Laestadiusrauchstube besuchten. Die Bustür stand offen wegen der Hitze, ein Fahrer war nirgends zu sehen. Ich zog den Jungen mit mir zur Einstiegstreppe, wir kletterten hinein. Auf den Sitzen, die etwas feucht rochen, lagen Taschen und Jacken. Wir setzten uns ganz nach hinten und krochen hinter die Rückenlehne. Bald stiegen einige ältere Damen ein, setzten sich auf ihre Plätze, keuchend und verschwitzt. Sie redeten in einer Sprache mit vielen Brauselauten und tranken in langen Zügen aus Flaschen mit Erfrischungsgetränken. Weitere Rentner trafen ein, und schließlich tauchte auch der Fahrer auf, schob sich Kautabak unter die Lippe, und dann ging es los.

Schweigend und mit großen Augen betrachteten wir die Landschaft, die vorbeisauste. Wir verließen Pajala, schnell verschwand dessen letztes Haus, und brummten hinaus in die Wildnis. So viel Wald, das schien nirgends ein Ende zu nehmen. Alte Telefonmasten mit Porzellanknöpfen, an denen die Kabel in schweren Bögen in der Hitze hingen.

Es dauerte mehrere Kilometer, bis uns jemand bemerkte. Ich stieß aus Versehen gegen den Vordersitz, und eine Dame mit grobporigen Wangen drehte sich um. Ich lächelte sie abwartend an. Sie erwiderte mein Lächeln, wühlte eine Weile in ihrer Handtasche und bot uns dann etwas aus einer ungewöhnlichen, stoffartigen Bonbontüte an. Sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Dann deutete sie auf den Fahrer und fragte:

»Papa?«

Ich nickte mit einem steifen Lächeln.

»Habt ihr Hunger?«, fuhr sie in ihrer merkwürdigen Sprache fort.

Und ehe wir uns versahen, hatte sie jedem von uns ein Schwarzbrot mit Käse in die Hand geschoben.

Nach einer langen, holprigen Busreise hielten wir auf einem großen Parkplatz an. Alle strömten hinaus, auch ich und mein Kumpel. Vor uns lag ein breites Betongebäude mit flachem Dach und hohen, gespreizten Metallantennen. Weiter entfernt, hinter einem Maschendrahtzaun, standen ein paar Propellerflugzeuge. Der Fahrer öffnete eine Luke und holte die Reisetaschen heraus. Die nette Dame hatte viel zu viel Gepäck und kam vollkommen in Hektik. Der Schweiß lief ihr unter dem Hutrand heraus, und sie lutschte mit einem hässlichen Schmatzen an ihren Zähnen. Ich und mein Kumpel halfen ihr als Dank für die

Butterbrote und schnappten uns eine schwere Tasche. Wir trugen sie in das Gebäude, wo die Rentnergruppe sich in einem laut schwatzenden Haufen vor einem Tresen sammelte und alle möglichen Papiere heraussuchte. Eine uniformierte Frau versuchte geduldig für Ordnung zu sorgen. Dann konnten wir in geordnetem Trupp durch die Sperre zum Flugzeug gehen.

Es war das erste Mal, dass ich fliegen sollte. Wir fühlten uns ein wenig verloren, aber eine liebe braunäugige Frau mit goldenen Herzen in den Ohren half uns, die Sicherheitsgurte anzuschnallen. Mein Kumpel landete auf dem Fensterplatz, und mit wachsender Spannung konnten wir sehen, wie die glänzenden Propeller anfingen, sich zu drehen, immer schneller und schneller, bis sie ganz und gar in einem runden, unsichtbaren Wirbel verschwanden.

Dann begannen wir uns zu bewegen. Ich wurde in den Sitz gedrückt, spürte, wie die Räder holperten und dann den leichten Ruck, als wir den Boden verließen. Mein Kumpel zeigte hingerissen aus dem Fenster. Wir flogen! Dort unten lag die Welt. Menschen, Häuser und Autos schrumpften zu Spielsachen, so klein, dass sie in den Taschen Platz gefunden hätten. Und dann kamen von allen Seiten Wolken, weiß von außen, aber innen grau wie Haferschleim. Wir wurden durch die Wolken hinaufgehoben und stiegen immer weiter, bis das Flugzeug das höchste Himmelsdach erreichte und dann so langsam vorwärts schwebte, dass es kaum zu spüren war.

Die nette Stewardess gab uns Saft, was ein Glück war, da wir ziemlich durstig waren. Und als wir pinkeln mussten, zeigte sie uns einen winzig kleinen Raum, in dem wir einer nach dem anderen unseren Pimmel herausholten. Ich pinkelte in ein Loch und stellte mir vor, wie die Pisse als dünner gelber Regen zur Erde fiel.

Dann bekamen wir beide einen Block und Stifte. Ich malte zwei Flugzeuge, die zusammenstießen. Mein Kumpel legte seinen kurzgeschorenen Kopf immer weiter nach hinten, und bald schlief er mit offenem Mund. Wenn er ausatmete, beschlug die Flugzeugscheibe.

Nach einer ganzen Weile landeten wir. Alle Passagiere versuchten als Erste hinauszukommen, und in dem Gewühl verloren wir die alte Dame. Ich fragte einen Mann mit Schirmmütze, ob das hier China war. Er schüttelte den Kopf und zeigte auf einen unendlich langen Flur, den Leute mit ihren Taschen hin und her liefen. Wir gingen dorthin, und ich musste mehrere Male höflich fragen, bis wir endlich Menschen mit Schlitzaugen entdeckten. Ich dachte mir, dass die doch bestimmt nach China wollten, also setzten wir uns zu ihnen und warteten geduldig.

Nach einer Weile kam ein Mann in einer dunkelblauen Uniform und fing an, uns Fragen zu stellen. Sicher würden wir Probleme kriegen, das konnten wir seinen Augen ansehen. Ich lächelte deshalb schüchtern und tat so, als würde ich ihn nicht verstehen.

»Papa«, murmelte ich und zeigte irgendwo weit in die Ferne.

»Wartet hier«, sagte er und verschwand mit raschem Schritt.

Sobald er weg war, zogen wir um auf eine andere Bank. Dort trafen wir ein schwarzhaariges Chinesenmädchen in Kniestrümpfen, die ein witziges Plastikpuzzle hatte. Sie legte die Teile auf den Boden und zeigte uns, wie man daraus einen Baum oder einen Hubschrauber oder was sonst noch bauen konnte. Sie redete viel und ruderte mit ihren dünnen Armen, ich glaube, sie sagte, sie heiße Li. Ab und zu deutete sie auf eine Bank, auf der ein Onkel mit strengen Augen neben einem älteren Mädchen mit rabenschwarzem Haar eine Zeitung las. Ich begriff, dass das die Schwester des Mädchens war. Sie aß eine rote, weiche Frucht und wischte sich mit einer spitzenumsäum-ten Serviette den Mund ab. Als ich zu ihr ging, bot sie mir mit verhaltener Miene Stücke an, die sorgsam mit einem Obstmesser abgeschnitten waren. Sie schmeckten so süß, dass ich spürte, wie es in mir vibrierte, so etwas Gutes hatte ich nie zuvor gegessen, und ich stieß meinem Kumpel in die Seite, dass auch er probieren sollte. Er genoss den Happen mit versonnenem Blick. Und als eine Art Dank zog er überraschend eine Streichholzschachtel heraus, öffnete sie einen Spalt und ließ das Chinesenmädchen hineingucken.

Dort drinnen lag ein großer, grün glänzender Käfer. Die große Schwester versuchte ihn mit einem kleinen Obststückchen zu füttern, aber da flog er davon. Er erhob sich dumpf brummend über all die schlitzäugigen Menschen in ihren Sesseln, umkreiste zwei Frauen mit Stäben im Haar, die überrascht aufschauten, umrundete einen Berg von Reisetaschen mit einem hastig eingeschlagenen Rentiergeweih oben drauf und flog dann dicht unter der Leuchtstoffröhre den Flur entlang, den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Mein Kumpel sah traurig aus, aber ich versuchte ihn damit zu trösten, dass er sicher schon auf seinem Weg zurück nach Pajala war.

Im gleichen Moment ertönte eine Lautsprecherstimme, und alle hatten es plötzlich ganz eilig. Wir packten die Puzzleteile in die Spielzeugtasche des Mädchens und drängten uns in dem Passagiergewimmel durch die Sperre. Dieses Flugzeug war viel größer als das vorherige. Statt der Propeller hatte es große Trommeln an den Flügeln, die pfiffen, als es startete. Das Geräusch wurde zu einem ohrenbetäubenden Heulen und dann zu einem dumpfen Grollen, als wir abgehoben hatten.

Wir kamen nach Frankfurt. Und wenn mein schweigsamer Reisebegleiter keine Probleme mit dem Bauch gehabt und nicht unter einen Tisch geschissen hätte, dann wären wir sicher, dann wären wir auf jeden Fall, daran gibt es gar keinen Zweifel, bis nach China gekommen.

KAPITEL 2

- über lebendigen und toten Glauben, wie Schrauben Gewalt auslösen können und über ein merkwürdiges Intermezzo in der Kirche von Pajala.

Ich freundete mich mit meinem schweigenden Kumpel an, und bald ging ich das erste Mal mit zu ihm nach Hause. Es stellte sich heraus, dass seine Eltern Laestadianer waren, Anhänger der Erweckungsbewegung, die Lars Levi Laestadius vor langer, langer Zeit in Karesuando ins Leben gerufen hatte. In feurigen Predigten hatte dieser kurz gewachsene Priester fast genauso viel geflucht wie die Sünder und Lotterleben und Unzucht angeprangert, und das mit einer derartigen Kraft, dass die Nachwirkungen noch heute zu spüren sind.

Für einen Laestadianer genügt es nicht, nur zu glauben. Es geht nicht nur darum, getauft zu werden, oder um ein Lippenbekenntnis, oder darum, Kirchensteuer zu zahlen. Der Glaube muss lebendig sein. Ein alter Laestadianerprediger wurde einmal gefragt, wie er diesen lebendigen Glauben beschreiben würde. Er dachte lange darüber nach und antwortete schließlich, dass es so wäre, als würde man sein Leben lang bergauf wandern.

Sein Leben lang bergauf wandern. Nicht so einfach, sich das vorzustellen. Du spazierst in wunderschönster Ruhe eine lange, sich dahinschlängelnde Tornedalsche Landstraße entlang, so wie die zwischen Pajala und Muodoslompolo. Es ist grünender, sprießender Frühsommer. Der Weg führt durch einen dicht gewachsenen Nadelwald, es duftet von den Morasttümpeln her nach Moor und Sonne. Auerhähne picken Kieselsteine in den Gräben, schrecken mit laut flatternden Flügeln auf und verschwinden im Gestrüpp.

Bald gelangst du zum ersten Anstieg. Du merkst, wie die Erde ansteigt, und spürst, wie es in den Wadenmuskeln zieht. Aber du denkst nicht weiter darüber nach, es ist ja nur eine ganz kleine Steigung. Dort oben wird der Weg sich schon bald wieder zu einer trockenen Waldebene mit dichter weißer Rentierflechte zwischen himmelhohen Bäumen ausstrecken.

Aber die Steigung hält an. Sie ist länger, als du gedacht hast. Die Beine werden müde, die wirst langsamer und hältst immer ungeduldiger nach der Kuppe Ausschau, die doch gleich kommen muss.

Aber sie kommt nicht. Der Weg geht immer weiter hinauf. Der Wald hat sich nicht verändert, Moorflecken und Laubbaumgruppen und ab und zu hässliche Einschläge. Aber die Steigung hält an. Als hätte jemand die ganze Landschaft herausgebrochen und sie an dem einen Rand hochgehoben. Hätte das äußerste Ende hochgehoben und etwas daruntergelegt, einfach nur so, um Ärger zu machen. Und du ahnst allmählich, dass es weiter nach oben gehen wird, den ganzen Tag lang. Und am nächsten Tag auch noch.

Unverdrossen stapfst du nach vorne gebeugt weiter.

Aus Tagen werden Wochen. Die Beine werden bedenklich müde, und die Gedanken befassen sich immer wieder damit, wer wohl so geschickt gewesen sein und das hier aufgebockt haben kann. Und es ist nicht schlecht gemacht, das musst du widerstrebend zugeben. Aber nach Parkajoki wird es ja wohl endlich wieder eben werden, irgendwann muss ja mal Schluss sein. Und du kommst nach Parkajoki, doch die Steigung ist immer noch da, und dann denkst du halt an Kitkiöjoki.

Aus Wochen werden Monate. Du arbeitest sie Schritt für Schritt ab. Der Schnee beginnt zu fallen. Und der Schnee schmilzt und fällt von neuem. Und zwischen Kitkiöjoki und Kitkiöjärvi bist du kurz davor aufzugeben. Die Beine zittern, die

Hüftgelenke schmerzen, die letzten Energiereserven des Körpers sind fast aufgebraucht.

Aber du ruhst dich eine Weile aus und kämpfst dich dann weiter voran. Bald musst du dich doch Muodoslompolo nähern. Ab und zu triffst du jemanden, der aus einer anderen Richtung kommt, das ist unausweichlich. Jemanden, der auf leichten Füßen hinuntertrippelt und auf dem Weg nach Pajala an dir vorbeigeht. Einige von denen haben sogar ein Fahrrad dabei. Sitzen auf dem Sattel, ohne zu treten, können bequem den ganzen Weg hinunterrollen. Da kommen Zweifel auf, das musst du zugeben. Da werden innere Kämpfe ausgefochten.

Und deine Schritte werden kürzer. Und die Jahre vergehen. Und jetzt musst du doch nah sein, ganz, ganz nah. Und noch einmal fällt der Schnee, es ist, wie es sein soll. Du blinzelst in den Schneeböen und meinst, etwas erkennen zu können. Meinst, dort hinten würde es heller werden. Der Wald wird lichter, öffnet sich. Häuser sind zwischen den Bäumen zu erkennen. Das ist die Stadt! Das ist Muodoslompolo! Und mitten in einem Schritt, einem letzten, kurzen und zitternden Schritt ...

Bei der Beerdigung betont der Prediger, dass du im lebendigen Glauben gestorben bist. Die Sache ist klar. Du bist in dem lebendigen Glauben gestorben, sie kuolit elävässä uskossa. Du bist bis Muodoslompolo gekommen, wir alle können das bezeugen, und jetzt sitzt du endlich auf dem goldenen Gepäckträger Gottvaters, des Herren, in einer ewigen, engeltrompetenden Abwärtsfahrt.

Es stellte sich heraus, dass mein Kumpel einen Namen hatte, seine Mutter rief ihn Niila. Beide Eltern waren also streng christlich. Obwohl ihr Haus voller Kinder war, herrschte darin eine traurige, kirchenähnliche Stille. Niila hatte zwei ältere Brüder und zwei kleine Schwestern, und ein weiteres strampelte in Mamas Bauch. Und da jedes Kind ein Geschenk Gottes war, würden es mit der Zeit sicher noch mehr werden.

Es war unglaublich, dass so viele Kinder so leise sein konnten. Sie besaßen kaum Spielsachen, die meisten waren aus unbemal-tem Holz, das die großen Brüder zurechtgeschnitzt hatten. Damit spielten die Kinder, stumm wie Fische. Und das kam nicht nur daher, weil sie religiös erzogen worden waren, das traf ja auch auf einige andere Familien in Tornedalen zu. Man hatte ganz einfach aufgehört zu reden. Vielleicht aus Scheu, vielleicht aus Wut. Vielleicht, weil man es als unnötig erachtete. Die Eltern öffneten ihren Mund nur zum essen, sonst genügte ein Nicken, und dabei zeigten sie auf das, was sie wollten, und die Kinder gehorchten.

Auch ich schwieg, als ich Niila besuchte. Als Kind bekommt man das schnell mit. Ich zog meine Schuhe auf der Fußmatte aus und schlich auf weichen Zehenballen, mit gesenktem Kopf, den Rücken leicht gekrümmt, hinein. Ich wurde von einem Schwarm stummer Augen empfangen, im Schaukelstuhl, unter dem Tisch, am Topfschrank. Die Kinderblicke glühten und wichen sogleich wieder aus, stolperten über Küchenwände und den Holzfußboden, um immer wieder zu mir zurückzukommen. Ich starrte nach bestem Vermögen zurück. Das Gesicht des kleinsten Mädchens verzog sich vor Angst, in dem aufgerissenen Kindermund waren die Milchzähne zu sehen, und Tränen begannen sich hervorzudrängen. Sie weinte, aber auch das Weinen war lautlos. Nur die Wangenmuskeln bekamen Falten, während kleine, runde Hände sich an Mamas Rockzipfel klammerten. Die Mutter trug ein Kopftuch, obwohl sie doch im Haus war, sie stand mit den Armen bis zu den Ellbogen in einen Backtrog gesenkt. Das Mehl wirbelte auf und wurde unter ihren kräftigen Knetbewegungen von einem Sonnenstrahl vergoldet. Sie tat so, als würde sie gar nicht merken, dass ich hier war, und Niila nahm das als Zustimmung auf. Er zog mich mit sich zu seinen großen Brüdern, die auf der Küchenbank miteinander

Schrauben tauschten. Vielleicht war das auch eine Art Spiel, ein kompliziertes Hin und Her zwischen verschiedenen Schachteln und Fächern. Mit der Zeit wurden sie immer wütender aufeinander und begannen schweigend einander die Schrauben aus den Händen zu reißen. Eine Mutter fiel zu Boden, Niila schnappte sie sich. Der älteste Bruder packte blitzschnell seine Hand, bis Niila vor Schmerzen den Atem anhielt und gezwungen war, die Mutter in eine durchsichtige Plastikschachtel fallen zu lassen. Woraufhin der jüngere Bruder die Schachtel auskippte. Ein Klirren von Metall, als der Inhalt sich über den Holzfußboden ergoss.

Einen Augenblick lang erstarrten alle. Alle Augen in der Küche konzentrierten sich auf die Brüder, ein Brennpunkt wie bei einem Film, der sich verklemmt hat, dann schwarz wird, schrumpelt, und schließlich wird alles weiß. Ich spürte den Hass, ohne etwas zu verstehen. Mit einer scharfen Bewegung packten die Brüder einander beim Hemd. Die Oberarmmuskeln spannten sich an, wie schwere Magneten wurden sie voneinander angezogen. Und die ganze Zeit starrten sie sich in die Augen, kohlschwarze Pupillen, zwei Spiegel, direkt aufeinander gerichtet, während der Abstand sich bis zur Unendlichkeit dehnte.

Da warf die Mutter den Wischlappen. Er schoss mit einer dünnen Mehlwolke hinter sich durch die Küche, ein Komet mit Schweif, der die Stirn des älteren Sohnes traf. Drohend blieb sie abwartend stehen und strich sich langsam den Teig von den Händen. Sie hatte keine Lust, den ganzen Abend Hemdenknöpfe anzunähen. Widerstrebend lockerten die Brüder ihren Griff. Dann standen sie auf und gingen durch die Küchentür hinaus.

Die Mutter holte den Wischlappen, wusch sich die Hände und widmete sich wieder dem Teigkneten. Niila packte alle Schrauben in die Plastikschachtel und schob diese mit einer freudigen Miene in seine Tasche. Dann spähte er durchs Küchenfenster hinaus.

Mitten auf dem Gartenweg standen die Brüder. Ihre Arme schickten einen Fausthieb nach dem anderen aus. Schwere Treffer, sodass die kurzgeschorenen Köpfe wie Kohlrabiköpfe verdreht wurden. Aber kein Schrei, kein Schimpfwort. Schlag für Schlag auf die niedrigen Stirne, über die Kartoffelnasen, harte Treffer auf die purpurroten Ohren. Der Ältere hatte eine größere Reichweite, der Jüngere musste reichlich Schläge einstecken. Beide bluteten aus der Nase. Es tropfte und spritzte, ihre Knöchel waren rot. Und dennoch machten sie weiter. Peng. Klatsch. Peng. Zack.

Wir bekamen Saft und Zimtbrötchen direkt aus dem Ofen, so heiß, dass man sie eine Weile zwischen den Zähnen behalten musste, bevor man sie kauen konnte. Dann fing Niila an, mit den Schrauben zu spielen. Er kippte sie auf der Küchenbank aus, seine Finger zitterten, mir war klar, dass er sich schon lange danach gesehnt hatte, sie anfassen zu dürfen. Er sortierte sie in die verschiedenen Fächer der Plastikschachtel, kippte sie wieder aus, vermischte sie und fing von vorne an. Ich versuchte ihm zu helfen, merkte aber, dass er wütend wurde, und nach einer Weile ging ich heim. Er schaute nicht einmal auf.

Draußen standen die Brüder noch immer zusammen. Der Kies war inzwischen zu einem kreisförmigen Wall getreten worden. Die gleichen wütenden Schläge, der gleiche stumme Hass, aber jetzt mit langsameren, müderen Bewegungen. Ihre Hemden waren durchgeschwitzt. Ihre Gesichter waren grau hinter dem Blut, leicht mit Staub gepudert.

Da bemerkte ich, dass sie sich verwandelt hatten. Das waren keine richtigen Jungen mehr. Ihre Kiefer waren angeschwollen, die Eckzähne ragten zwischen den geschwollenen Lippen hervor. Ihre Beine waren kürzer und kräftiger, wie die Schenkel eines Bären, sie schwollen an, dass die Hosen in den Säumen knackten. Die Nägel waren schwarz geworden und hatten sich zu Klauen entwickelt. Und jetzt erkannte ich, dass das keine Erde im Gesicht war. Das waren Haare. Ein dichter Pelz, der sich dunkel über ihre hellen Jungswangen ausgebreitet hatte, den Hals hinunter und weiter bis in den Hemdkragen.

Ich wollte laut rufen, um sie zu warnen. Ging einen unvorsichtigen Schritt näher heran.

Beide hielten inne. Wandten sich mir zu. Rotteten sich zusammen, sogen meine Witterung ein. Und jetzt sah ich den Hunger. Den lebensbedrohlichen Hunger. Sie wollten essen, wollten Fleisch.

Ich trat mit einem eiskalten Gefühl im Bauch ein paar Schritte zurück. Sie knurrten. Näherten sich Schulter an Schulter, zwei wachsame Raubtiere. Dann wurden sie schneller. Traten aus ihrem Kiesring heraus. Gruben ihre Klauen in den Boden, bereit zu einem schrecklichen Sprung.

Die Dunkelheit wölbte sich über mir.

Mein Schrei, der erstickt wurde. Die Angst, das Jammern, ein quiekendes kleines Ferkel.

Ding. Dang. Dong.

Kirchenglocken.

Die heiligen Kirchenglocken. Ding dang. Ding dang dong. Auf den Hof radelte eine weiß gekleidete Gestalt, eine leuchtende Gestalt, die in einer mehligen Wolke von Licht seine Klingel betätigte. Er hielt wortlos an. Mit Riesenfäusten packte er die Tiere, hob sie beide beim Nackenfell und schlug die Steckrüben zusammen, dass es knackte.

»Papa«, jammerten sie, »Papa, Papa .«

Und das Licht wurde matter, und der Vater warf die Söhne auf die Erde und packte sie beim Fußgelenk, einen Sohn in jeder Faust, und so zog er sie über den Gartenweg, hin und her, er ebnete den Kiesring mit ihren Vorderzähnen, bis der Hof wieder schön und ordentlich war. Und als er damit fertig war, weinten beide Brüder, sie weinten und waren wieder zu Jungen geworden. Und ich lief nach Hause, rannte, so schnell ich konnte. Und in meiner Tasche lag eine Schraube.

Niilas Papa hieß Isak und er stammte aus einem alten Laestadia-nergeschlecht. Schon als kleiner Junge war er zu Gebetsstunden in den verrauchten Rauchstuben mitgeschleppt worden, in denen dunkel gekleidete Kleinbauern und ihre Ehefrauen mit geknoteten Kopftüchern Hintern an Hintern auf aufgestellten Sitzbrettern hockten. Es war so eng, dass die Stirn jeweils gegen den vorderen Rücken stieß, wenn man vom Heiligen Geist ergriffen wurde und anfing, sich beim Gebetsmurmeln zu wiegen. Dazwischen eingeklemmt hatte Isak gesessen, ein schmächtiger Junge zwischen den Onkeln beider Familien, die sich vor seinen Augen verwandelten. Sie begannen tiefer zu atmen, die Luft wurde schwer und feucht, sie bekamen purpurrote Gesichter, ihre Brillen beschlugen, ihre Nasen begannen zu tropfen, während die Stimmen der beiden Prediger immer lauter im Gesang erklangen. Diese Worte, diese lebendigen Worte, die die echte Wahrheit Faden für Faden weiterspannen, Bilder des Bösen, des Verrats, von Sünden, die gern in der Erde verborgen bleiben wollten, die aber mit ihren faulen Wurzeln herausgezogen und vor der Gemeinde wie wurmstichige Rüben geschüttelt wurden. In der Reihe vor ihm saß ein Mädchen mit Zöpfen, mit blondem, goldenem Haar, in der Dunkelheit, von beiden Seiten von erwachsenen Körpern in dem Qualm zusammengepresst. Sie war still, sie hielt eine Puppe ans Herz gedrückt, während der Sturm von oben noch zunahm. Es war erschreckend, seine Eltern weinen zu sehen. Zusehen zu müssen, wie die erwachsenen klugen Verwandten verwandelt, zerschmettert wurden. Klein dazwischen zu sitzen und zu spüren, wie es auf einen tropfte, und zu denken: Das ist meine Schuld. Das ist meine Schuld, wenn ich doch nur ein bisschen artiger gewesen wäre. Isak hatte seine Jungshände zu festen Fäusten geballt, und darinnen hatte es von Insekten gewimmelt. Und er dachte: Wenn ich sie öffne, dann sterben alle. Wenn ich sie loslasse, gehen wir unter.

Und dann eines Tages, an einem Sonntag, nachdem die Jahre verstrichen waren und er groß und kräftig geworden war, wagte er sich auf das frische Nachteis hinaus. Alles ging entzwei, die Schale zerbarst. Er war dreizehn Jahre alt geworden und spürte, wie Satan in seinem Bauch wuchs, und mit einem Schrecken, der größer war als die Angst vor Prügeln, größer als der Selbsterhaltungstrieb, war er bei einem Treffen aufgestanden, hatte Halt bei den Rücken gesucht, war vor und zurück geschwankt und dann mit der Nase voran in Christi Schoß gefallen. Über seinen Kopf und seinen Brustkorb hatten sich vernarbte Handflächen gelegt, das war die zweite Taufe, so ging das damals vor sich. Er hatte seine Büchse böser Taten aufgeknöpft und war von seinen Sünden überspült worden.

Kein Auge blieb bei der Versammlung trocken. Das war etwas Großes. Das war ein Ruf, dem man beiwohnte. Der Herr hatte mit eigener Hand den Jungen zu sich geholt und ihn dann wieder zurückgeführt.

Und anschließend, als er zum zweiten Mal gehen gelernt hatte, als er auf wackligen Beinen dort stand, hatten sie ihn gestützt. Seine dicke Mama hatte ihn in Jesu Namen und Blut umarmt, und ihre Tränen waren ihm übers Gesicht gelaufen. Die Predigerlaufbahn war damit vorgegeben.

Wie die meisten Laestadianer wurde Isak ein fleißiger Arbeiter. Im Winter fällte er Bäume im Wald, flößte sie im Frühsommer und schuftete auf dem kleinen Bauernhof seiner Eltern, die ein paar Kühe und Kartoffeläcker hatten.

Er arbeitete viel und forderte nur wenig, verabscheute den Alkohol, das Kartenspiel und den Kommunismus. Was ihm hin und wieder Probleme bei den Waldarbeitern brachte, doch er sah den Spott seiner Kollegen als eine Prüfung an und las während seines Schweigens die Woche über in den Postillen des Predigerbruders.

Aber am Wochenende säuberte er sich mittels Gebet und Sauna und zog sich ein weißes Hemd und seinen dunklen Anzug an. Bei den Versammlungen konnte er endlich den Schmutz und den Teufel angreifen, das zweischneidige Schwert des Herrn schwingen, Gesetz und Evangelium, wider alle Sünder, wider die Lügner, die Hurenböcke, die Scheinheiligen, die Fluchenden, die Trinker, die prügelnden Ehemänner und die Kommunisten, die sich wie Läuse in das Jammertal des Torne-dalschen Flusstals drängten.

Sein junges, energisches, sorgsam rasiertes Gesicht. Die tief liegenden Augen. Geschickt fing er die Aufmerksamkeit der Versammlung auf, und bald heiratete er eine Glaubensfreundin, eine scheue, zurechtgehobelte, nach Seife duftende Finnin aus der Gegend um Pello.

Aber als die Kinder kamen, wurde er von Gott im Stich gelassen. Eines Tages war es nur noch still. Niemand antwortete ihm länger.

Zurück blieb allein eine große, abgrundtiefe Verwirrung. Trauer. Und eine langsam wachsende Boshaftigkeit. Er begann zu sündigen, einfach um es auszutesten. Kleine, böse Taten gegenüber seinen Nächsten. Und als er merkte, dass ihm das gefiel, machte er weiter. Während einiger ernsthafter Gespräche mit besorgten Glaubensbrüdern nahm er den Namen des Teufels in den Mund. Sie gingen ihrer Wege und kamen nicht zurück.

Aber trotz seiner Verlassenheit, seiner Leere, bezeichnete er sich selbst immer noch als gläubig. Er hielt an den Ritualen fest und erzog seine Kinder nach den Worten der Schrift. Nur dass er die Gestalt des Herren durch sich selbst ersetzte. Und das war die schlimmste Form des Laestadianismus, die kälteste, die schonungsloseste: Ein Laestadianismus ohne Gott.

Auf diesem bis ins Mark gefrorenen Boden wuchs Niila auf. Wie viele Kinder in einer bedrohlichen Umgebung lernte er zu überleben, indem er sich unsichtbar machte. Das hatte ich ja bereits bei unserer ersten Begegnung auf dem Spielplatz erlebt, seine Fähigkeit, sich lautlos von einem Ort zum anderen zu bewegen. Wie er die Farbe der Umgebung anzunehmen schien, bis er kaum noch zu unterscheiden war. Er war ein typisches Tornedalsches Kleinbürgerwesen. Man krümmt sich zusammen, um Wärme zu sparen. Man wird härter im Fleisch, bekommt steife Schultermuskeln, die dann im mittleren Alter anfangen zu schmerzen. Man macht kleinere Schritte, atmet flacher, und die Haut wird aufgrund des Sauerstoffmangels leicht grau. Ein Tornedalscher Kleinbürger flieht nie bei einem Angriff, weil das sowieso keinen Sinn hat. Man kauert sich zusammen und hofft, dass es bald vorbei ist. In öffentlichen Räumen setzt man sich ganz nach hinten, ein Phänomen, das man oft bei Tornedalschen Kulturveranstaltungen bemerken kann; zwischen dem Scheinwerferlicht der Bühne und dem Publikum klaffen gut zehn leere Stuhlreihen, während die hinteren Reihen alle voll besetzt sind.

Niila hatte kleine Wunden am Unterarm, die nie heilten. Mit der Zeit bemerkte ich, dass er sich immer kratzte. Er tat das ganz unbewusst, die schmutzigen Fingernägel krochen ganz von selbst dorthin und richteten den Schaden an. Sobald sich Schorf bildete, kratzte er daran, brach ihn auf, riss ihn los und streute ihn in die Gegend. Sodass er manchmal auf mir landete, manchmal aß er ihn auch mit einer geistesabwesenden Miene auf. Ich weiß nicht, was ich am ekligsten fand. Wenn wir bei mir zu Hause waren, versuchte ich es ihm zu sagen, aber er schien es irgendwie nie wahrzunehmen. Und nach einer Weile machte er es wieder.

Aber das Merkwürdigste an Niila war doch, dass er nicht redete. Schließlich war er schon fünf Jahre alt. Manchmal öffnete er den Mund und war kurz davor, man konnte hören, wie sich der Schleimkloß in der Kehle rührte. Das wurde zu einer

Art Räuspern, ein Pfropfen, der sich zu lösen schien. Doch dann hielt er inne und sah ganz verängstigt aus. Er verstand, was ich sagte, das war zu erkennen, mit seinem Kopf war alles in Ordnung. Aber etwas darinnen hatte sich verhakt.

Sicher spielte dabei eine Rolle, dass seine Mutter aus Finnland stammte. Eine schon von Vorneherein schweigsame Frau aus dieser gequälten Nation, die von Bürgerkrieg, Winterkrieg und folgendem Weltkrieg niedergetrampelt worden war, während die fetten Nachbarn im Westen Eisenerz an die Deutschen verkauften und dabei reich wurden. Sie fühlte sich minderwertig. Sie wollte ihren Kindern das geben, was sie selbst nicht bekommen hatte, sie sollten echte Reichsschweden werden, deshalb wollte sie ihnen lieber Schwedisch beibringen als ihre finnische Muttersprache. Und da sie selbst kaum Schwedisch konnte, schwieg sie lieber.

Daheim bei mir saßen wir oft in der Küche, weil Niila so gern Radio hörte. Im Unterschied zu seinem Elternhaus hatte meine Mutter den ganzen Tag im Hintergrund das Radio laufen. Ganz gleich, was gesendet wurde, alles vom Verkehrsfunk über das Wunschkonzert bis zu den Kirchenglocken aus Stockholm, Sprachkursen und Gottesdiensten. Ich selbst hörte nie zu, das ging bei mir in ein Ohr rein und zum anderen wieder raus. Niila dagegen schien schon allein die Geräuschkulisse zu genießen, die Tatsache, dass es nie ganz leise bei uns war.

Eines Nachmittags fasste ich einen Beschluss. Ich wollte Niila das Sprechen beibringen. Ich fing seinen Blick ein, zeigte auf mich selbst und sagte:

»Matti.«

Dann zeigte ich auf ihn und wartete. Er wartete auch. Ich beugte mich vor und schob ihm einen Finger zwischen die Lippen. Er sperrte den Mund auf, immer noch schweigend. Ich begann seinen Hals zu massieren, das kitzelte, er schlug meine Hand weg.

»Niila!«, sagte ich und versuchte ihn dazu zu bringen, das Wort zu wiederholen. »Niila, sag Niila!«

Er starrte mich an, als wäre ich ein Idiot. Ich deutete auf mein Geschlecht und sagte:

»Bumsen!«

Er lachte scheu über meine Frechheit. Ich zeigte auf meinen Hintern:

»Scheißen! Bumsen und scheißen!«

Er nickte und hörte wieder dem Radio zu. Ich zeigte auf seinen eigenen Hintern und zeigte mimisch, wie etwas herauskam. Fragend sah ich ihn an. Er räusperte sich. Ich erstarrte, wartete gespannt. Aber er schwieg. Wütend warf ich ihn zu Boden, schüttelte ihn.

»Kacken heißt das. Sag kacken!«

Er wand sich wortlos aus meinem Griff. Hustete und schien die Zunge im Mund zu kneten, um sie weich zu bekommen.

»Soifa«, sagte er dann.

Ich hielt den Atem an. Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Sie klang dunkel für einen kleinen Jungen, rau. Nicht besonders schön.

»Was hast du gesagt?«

»Donu al mi akvon.«

Noch einmal. Ich saß eine ganze Weile vollkommen überrascht da. Niila redete! Er hatte angefangen zu sprechen, aber ich kapierte nicht, was er sagte.

Würdevoll stand er auf, ging zum Spülbecken und trank ein Glas Wasser. Dann ging er zu sich nach Hause.

Etwas äußerst Merkwürdiges war geschehen. In seiner Stummheit, in seiner isolierten Furcht hatte Niila sich seine eigene Sprache erschaffen. Ohne zu reden, ohne Konversation hatte er Worte erfunden, sie zusammengefügt und Sätze gebildet. Oder waren das nicht nur seine? Lag das vielleicht tiefer, eingebettet in die innersten Torflager des Gehirns? Eine Ursprache. Eine alte, eingefrorene Erinnerung, die jetzt langsam auftaute.

Und schwupps waren die Rollen vertauscht. Statt dass ich ihn das Sprechen lehrte, war nun er es, der mich unterrichtete. Wir saßen in der Küche, Mutter war im Garten, das Radio quäkte.

»Ci tio estas sego«, sagte er und zeigte auf einen Stuhl.

»Ci tio estas sego«, wiederholte ich.

»Vi nomigas Matti«, er zeigte auf mich.

»Vi nomigas Matti«, wiederholte ich gehorsam.

Schnell schüttelte er den Kopf.

»Mi nomigas!«

»Mi nomigas Matti«, korrigierte ich mich. »Vi nomigas Niila.«

Er schmatzte eifrig. Es gab Regeln in seiner Sprache, es gab eine Ordnung. Man konnte nicht einfach so drauflosplappern.

Wir begannen sie als unsere Geheimsprache zu benutzen, sie wuchs zu einem Raum, der nur uns gehörte, in dem wir unsere Ruhe hatten. Die Kinder aus unserer Gegend wurden neidisch und misstrauisch, aber das steigerte nur das Vergnügen. Mama und Papa wurden unruhig und fürchteten, ich könnte einen Sprachfehler haben, aber der Arzt, den sie anriefen, meinte, dass Kinder oft eine Phantasiesprache benutzten, und dass das bald vorbeigehen würde.

Aber bei Niila hatte sich endlich der Halspfropfen gelöst. Mit Hilfe dieser Als-ob-Sprache überwand er seine Angst vorm Sprechen, und bald danach begann er auch Schwedisch und Finnisch zu reden. Er verstand ja viel und hatte bereits einen großen passiven Wortschatz. Der musste nur in Laute gekleidet werden, und die Mundbewegungen mussten eingeübt werden. Aber das erwies sich als schwieriger als angenommen. Lange Zeit klang es sehr merkwürdig, der Gaumen hatte Probleme mit den vielen Vokalen im Schwedischen und den Diphtongs im Finnischen, und die Lippen liefen vor Speichel über. Nach einer Weile konnte man ihn zwar einigermaßen verstehen, aber immer noch blieb er am liebsten bei unserer heimlichen Sprache. In der fühlte er sich zu Hause. Wenn wir sie sprachen, entspannte er sich und bewegte seinen Körper in leichteren, geschmeidigeren Bewegungen.

Eines Sonntags geschah etwas Ungewöhnliches in Pajala. Die Kirche war nämlich bis auf den letzten Platz besetzt. Es war ein ganz normaler Gottesdienst, der Pfarrer war wie immer Wilhelm Tawe, und normalerweise wäre noch reichlich Platz gewesen. Aber an diesem Tag war die Kirche überfüllt.

An diesem Tag sollten die Einwohner von Pajala nämlich den ersten lebendigen Schwarzen ihres Lebens sehen.

Das Interesse war groß, sogar meine Eltern ließen sich dorthin locken, während sie sich doch sonst eigentlich nur zu Weihnachten an diesem Ort blicken ließen. Auf der Bank vor uns saß Niila mit seinen Eltern und allen Geschwistern. Nur ein einziges Mal drehte er sich um und sah über die Rückenlehne zu mir, bekam aber sofort einen harten Stoß von Isak. Die Gemeinde flüsterte und summte, es waren Beamte und Waldarbeiter da - und sogar ein paar Kommunisten. Das Gesprächsthema war klar. Man überlegte, ob er wohl richtig schwarz war, kohlrabenschwarz, wie die Jazzmusiker auf den Plattenhüllen? Oder war er vielleicht nur bräunlich?

Beim Glockenläuten wurde die Tür der Sakristei geöffnet. Wilhelm Tawe trat heraus und wirkte hinter seiner Brille mit schwarzem Rand etwas angespannt. Und hinter ihm. Auch er im Priestergewand. In einem afrikanischen, glitzernden Mantel, oh ja ...

Kohlrabenschwarz! Ein Raunen war von den Sonntagsschul-fräuleins zu hören. Ganz und gar nicht braun, eher blauschwarz.

Neben dem Afrikaner trippelte eine alte Diakonisse, die viele Jahre lang in der Mission gearbeitet hatte, mager und mit gelbledriger Haut. Die Männer verneigten sich vor dem Altar, die Frau knickste. Dann leitete Tawe den Gottesdienst ein, indem er die große Gemeinde willkommen hieß und ganz besonders den weit gereisten Gast aus dem kriegsgeschüttelten Kongo. Die christlichen Gemeinden dort benötigten dringend materielle Hilfe, und die Kollekte dieses Tages sollte ohne Abstriche den Brüdern und Schwestern dort unten zugute kommen.

Die Rituale des Gottesdienstes nahmen ihren Lauf. Aber alle starrten nur in eine Richtung, konnten sich gar nicht satt sehen. Während der Psalmen hörte man zum ersten Mal die Stimme des Schwarzen. Er kannte die Melodien, offenbar sangen sie in Afrika ähnliche Kirchenlieder. Er sang mit tiefer, irgendwie rauer Stimme in einer Eingeborenensprache, und die ganze Kirche sang immer leiser, um ihn besser hören zu können. Als es endlich Zeit für die Predigt war, gab Tawe ein Zeichen. Und das Unerhörte geschah: Der Schwarze und die Diakonisse betraten gemeinsam die Kanzel.

Unruhe breitete sich aus, wir waren ja in den Sechzigerjahren, und da hieß es immer noch, dass die Frau in der Versammlung zu schweigen habe. Tawe erklärte aber sogleich zur allgemeinen Beruhigung, dass die Dame nur übersetzen sollte. Es wurde ein bisschen eng dort oben, als sie sich vorsichtig neben den stattlichen Fremden schob. Sie schwitzte reichlich unter ihrer Diakonissenhaube, ergriff das Mikrophon und warf nervöse Blicke auf die Versammlung. Der Schwarze blickte ruhig über die Reihen, seine Körperlänge wurde durch den hohen Hut, der golden und blau auf seinem Kopf ruhte, noch verstärkt. Sein Gesicht war so dunkel, dass man nur das Weiße in den Augen blitzen sah.

Dann begann er zu sprechen. Auf Bantusprache. Ohne Mikrophon. Er rief irgendwie, laut und lockend, als würde er jemanden im Dschungel suchen.

»Ich danke dem Herrn, danke dem Herrn, meinem Gott«, übersetzte die Diakonisse.

Dann ließ sie das Mikrophon fallen, beugte sich jammernd vor und wäre von der Kanzel gefallen, wenn nicht der Schwarze sie aufgefangen hätte.

Der Kirchendiener reagierte als Erster. Er kletterte hoch, schlang die knochigen Arme der Diakonisse um seinen Stiernacken und trug sie hinunter auf den Mittelgang.

»Malaria«, stöhnte sie. Ihre Haut war dunkelgelb, sie stand aufgrund einer Fieberattacke kurz vor der Ohnmacht. Einige Mitglieder des Kirchenrats schlossen sich an und halfen mit, sie aus der Kirche zu einem Auto zu tragen, das sofort zum Krankenhaus fuhr.

Zurück blieben die Gemeinde und der Schwarze. Alle fühlten sich wie benommen. Tawe trat vor, um zu übernehmen, aber der Schwarze stand immer noch auf der Kanzel. Wenn er um die halbe Welt gereist war, würde er das hier ja wohl auch noch schaffen. In Gottes Namen.

Er dachte kurz nach und wechselte dann von der Bantusprache ins Kisuaheli. Gewiss eine Vielmillionensprache, verbreitet in großen Teilen des afrikanischen Kontinents, aber leider vollkommen unbekannt in Pajala. Ausdruckslose Gesichter sahen ihn an. Er wechselte wieder die Sprache, diesmal ins Kreolfran-zösische. Der Dialekt war so stark, dass nicht einmal die Französischlehrerin seine Aussprache verstand. Immer aufgeregter ging er bei einigen Sätzen ins Arabische über. Versuchte es dann verzweifelt mit dem Flämischen, das er während seiner ökumenischen Reisen in Belgien aufgeschnappt hatte.

Der Kontakt blieb bei Null. Niemand verstand eine Silbe. In diesen abgelegenen Gegenden regierten allein das Schwedische und das Finnische.

Aus reiner Verzweiflung wechselte er ein letztes Mal die Sprache. Setzte so lautstark an, dass das Echo bis zur Orgel hinaufdrang, weckte eine Frau auf, die eingeschlafen war, brachte einen Säugling zum Weinen und die Blätter in der Predigerbibel zum Rascheln.

Da erhob sich Niila aus der Bank vor mir und rief zurück.

Es wurde totenstill in der Kirche. Die gesamte Versammlung drehte sich um und starrte diesen unverschämten Bengel an. Der Schwarze wandte das funkelnde Weiß seiner Augen dem Jungen dort unten zu, gerade in dem Moment, als dieser schroff von Isak niedergeboxt wurde. Der Afrikaner hob seine Hände als Zeichen, innezuhalten, und die Haut da drinnen war sonderbar weiß. Isak spürte den Blick und ließ seinen Sohn los.

»Cu vi komprenas kion mi diras?«, rief der Schwarze.

»Mi komprenas cion«, antwortete Niila.

»Venu ci tien, mia knabo. Venu ci tien al mi.«

Zögernd zwängte sich Niila aus der Bankreihe und stellte sich in den Gang. Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte er fliehen. Der Afrikaner winkte ihn mit hellen Handinnenflächen zu sich. Niila machte unter den Blicken aller Anwesenden ein paar zittrige Schritte. Sich duckend tastete er sich zur Kanzel vor, ein schüchterner kleiner Junge mit verschnittenem Haar. Der Schwarze half dem Buben die Stufen hinauf. Niila konnte kaum über die Brüstung sehen, aber der Afrikaner hob ihn mit seinen starken Armen hoch. Hielt den Jungen wie ein Lamm. Mit zitternder Stimme nahm er seine unterbrochene Predigt wieder auf:

»Dio nia, kiu auskultas niajnpregojn ...«

»Vater unser, der du unsere Gebete erhörst«, übersetzte Niila ohne jedes Zögern. »Heute hast du uns einen Jungen gesandt. Wir danken dir, Herr, wir danken dir .«

Niila verstand alles, was der Schwarze sagte. Die Einwohner von Pajala hörten wie vom Schlag getroffen zu, während der Junge die gesamte Predigt des Schwarzen übersetzte. Niilas Eltern und Geschwister saßen wie Steinsäulen mit entsetzten Gesichtern da. Sie waren schockiert, sie begriffen, dass eines von Gottes Wundern vor ihren Augen geschehen war. Viele in den Bänken brachen vor Entzückung in Tränen aus, alle waren gerührt und in ihren Herzen bewegt. Jubelndes Flüstern brach aus, bis der gesamte Kirchensaal summte. Ein Gnadenzeichen! Ein Wunder!

Ich selbst konnte das nicht begreifen. Woher kannte der Afrikaner unsere Geheimsprache? Denn genau diese redeten sie da oben, der Schwarze und Niila.

Das Ereignis wurde viel diskutiert, nicht zuletzt in kirchlichen Kreisen. Noch lange Zeit danach riefen Zeitungen und Fernsehen an und wollten den Jungen interviewen, aber Isak verbot das.

Ich selbst traf Niila erst ein paar Tage später. Er schlüpfte an einem Nachmittag in unsere Küche und sah immer noch mitgenommen aus. Wir bekamen von meiner Mutter Butterbrote, die wir wegmümmelten. Mit der Zeit taute Niila wieder auf eine etwas steife Art auf.

Im Hintergrund plapperte wie üblich das Radio. Plötzlich hatte ich so eine sonderbare Ahnung und drehte es lauter.

»Gis reaudo!«

Ich stutzte. Unsere Geheimsprache! Eine kurze Erkennungsmelodie, anschließend die Stimme des Sprechers:

»Sie hörten gerade die heutige Lektion unseres Sprachkurses in Esperanto.«

Sprachkurs in Esperanto. Er hatte es aus dem Radio gelernt. Langsam drehte ich mich um und sah Niila an. Er saß da, den Blick weit in die Ferne gerichtet.