Siebentes Kapitel

Bei meiner Rückkehr fand ich folgenden Brief meines Vaters vor:

»Mein lieber Viktor,
sicher hast Du ungeduldig auf einen Brief
mit der Festlegung des Datums Deiner Rückkehr zu uns gehofft, und ich war zuerst versucht, nur ein paar Zeilen zu
schreiben und Dir bloß den Tag anzugeben, an dem ich Dich
erwartete. Doch das wäre eine grausame Rücksichtnahme,
und das wage ich nicht. Wie bestürzt wärest Du, mein Sohn,
wenn Du in der Erwartung eines frohen und glücklichen Willkommens statt dessen Tränen und Trübsal vorfändest? Und
wie, Viktor, kann ich unser Unglück schildern? Dein Fernsein
kann Dich unseren Freuden und Leiden gegenüber nicht abgestumpft haben, und wie soll ich meinem so lange abwesenden
Sohn Schmerz zufügen? Ich möchte Dich auf die erschütternde
Nachricht vorbereiten, weiß aber, daß das unmöglich ist.
Schön jetzt überfliegt Dein Auge dieses Blatt, um die Worte zu
suchen, die Dir die furchtbare Nachricht vermitteln sollen. Wilhelm ist tot! – das süße Kind, dessen Lächeln mir das Herz entzückte und wärmte, das so brav und doch so fröhlich war! Viktor, er wurde ermordet!
Ich will nicht versuchen, Dich zu trösten, sondern einfach die Umstände der Tat schildern.
Am vorigen Donnerstag (dem 7. Mai) gingen ich, meine Nichte und Deine zwei Brüder in Plainpalais spazieren. Der Abend war warm und freundlich, und wir gingen weiter als sonst. Es dämmerte schon, als wir ans Umkehren dachten, und da stellten wir fest, daß wir Wilhelm und Ernst, die vorausgerannt waren, nicht finden konnten. Wir setzten uns also zum Ausruhen auf eine Bank, bis sie zurückkämen. Bald traf Ernst ein und fragte, ob wir seinen Bruder gesehen hätten: er sagte, er habe mit ihm gespielt, Wilhelm sei fortgelaufen, um sich zu verstecken, er habe vergeblich nach ihm gesucht und dann eine ganze Weile auf ihn gewartet, er sei aber nicht zurückgekommen.
Dieser Bericht beunruhigte uns etwas, und wir suchten ihn bis zum Einbruch der Dunkelheit weiter, als Elisabeth die Vermutung aussprach, er könnte zum Haus zurückgekehrt sein. Da war er nicht. Wir gingen noch einmal mit Fackeln zurück; denn ich fand keine Ruhe bei dem Gedanken, daß mein süßer Junge sich verirrt hatte und der feuchten Luft und dem Tau der Nacht ausgesetzt war. Auch Elisabeth ängstigte sich sehr. Gegen fünf Uhr morgens fand ich meinen liebsten Jungen, den ich noch am Abend blühend und lebendig bei voller Gesundheit gesehen hatte, bleich und reglos im Gras liegen: am Hals hatte er den Abdruck der Finger des Mörders. Man brachte ihn heim, und der Schmerz, der sich auf meinem Gesicht abzeichnete, verriet Elisabeth alles. Sie beharrte darauf, die Leiche zu sehen. Zunächst versuchte ich, sie davon abzuhalten; doch sie bestand darauf, und als sie in das Zimmer trat, wo er lag, untersuchte sie hastig den Hals des Opfers, krampfte die Hände zusammen und rief: ›O Gott! Ich habe meinen Liebling ermordet!‹
Sie verlor das Bewußtsein und konnte nur unter äußersten Mühen wiederbelebt werden. Als sie wieder zu sich gekommen war, konnte sie nur weinen und seufzen. Sie sagte mir, an eben diesem Abend habe Wilhelm sie gebeten und gedrängt, ihn eine sehr wertvolle Miniatur Deiner Mutter tragen zu lassen, die sich in ihrem Besitz befand. Dieses Bild ist fort und war es zweifellos, was den Mörder verlockt und zu der Tat getrieben hatte. Wir haben derzeit keine Spur von ihm, jedoch lassen wir in unseren Anstrengungen, ihn zu entdecken, nicht nach. Aber meinen geliebten Wilhelm geben sie mir nicht wieder!
Komm, liebster Viktor, Du allein kannst Elisabeth trösten. Sie weint immerzu und klagt sich fälschlich an, die Ursache seines Todes zu sein. Ihre Worte durchbohren mir das Herz. Wir sind alle unglücklich, aber ist das für Dich, mein Sohn, nicht ein Beweggrund mehr, zurückzukehren und uns zu trösten? Deine liebe Mutter! Ach, Viktor! Jetzt sage ich, Gott sei Dank, daß sie den elenden und grausamen Tod ihres jüngsten Lieblings nicht mehr erleben mußte.
Komm, Viktor, und brüte nicht über Rachegedanken gegen den Mörder, sondern komm mit friedvollen, nachsichtigen Gefühlen, die die Wunden unserer Seele heilen und nicht weiterschwären lassen. Tritt in das Trauerhaus ein, mein Freund, jedoch mit Güte und Zuneigung für die, die Dich lieben, und nicht mit Haß auf Deine Feinde.
Dein Dich liebender, leidgeprüfter Vater
Alfons Frankenstein.« Genf, 12. Mai 17.

Clerval, der mein Gesicht beobachtet hatte, während ich diesen Brief las, war überrascht von der Wahrnehmung, daß tiefe Trauer der zunächst offenbarten Beglückung folgte, nachdem ich die Nachricht von meinen Freunden erhalten hatte. Ich warf den Brief auf den Tisch und schlug mir die Hände vors Gesicht.

»Mein lieber Frankenstein«, rief Henri, als er mich bitterlich weinen sah, »sollst du denn immer unglücklich sein? Lieber Freund, was ist geschehen?«.

Ich bedeutete ihm, den Brief zu nehmen, während ich in äußerster Erregung das Zimmer durchmaß. Auch Clerval stürzten die Tränen aus den Augen, als er die Nachricht von meinem Unglück las.

»Ich kann dir keinen Trost bieten, mein Freund«, sagte er, »das Unheil ist nicht wiedergutzumachen. Was hast du vor?«
»Sofort nach Genf zu reisen: komm mit, Henri, die Pferde bestellen.«
Unterwegs bemühte sich Clerval um ein paar Trostworte; er konnte nur seine tiefempfundene Anteilnahme aussprechen. »Der arme Wilhelm!« sagte er. »Das liebe, schöne Kind, es schläft jetzt bei dem Engel, der seine Mutter war! Wer ihn aufgeweckt und fröhlich in seiner jugendlichen Schönheit gesehen hat, muß sein frühes Hinscheiden beweinen! So jämmerlich zu sterben; den Griff des Mörders zu spüren! Wieviel schlimmer ist ein Mörder, der eine so strahlende Unschuld vernichten konnte! Armer kleiner Kerl! Nur einen Trost haben wir: seine Freunde trauern und weinen, aber er hat Ruhe gefunden. Die Todesangst ist vorbei, seine Leiden sind für immer zu Ende. Ein Rasenstück bedeckt seine liebe Gestalt, und er kennt keinen Schmerz mehr. Er braucht unser Mitleid nicht mehr. Das müssen wir für seine unglücklichen Hinterbliebenen aufsparen.«
So sprach Clerval, während wir durch die Straßen eilten. Die Worte prägten sich meinem Gedächtnis ein, und ich erinnerte mich später daran, als ich allein war. Doch jetzt, kaum trafen die Pferde ein, stieg ich eilig in die leichte Kutsche und sagte meinem Freund Lebewohl.
Meine Reise verlief sehr trübsinnig. Anfangs wollte ich so rasch wie möglich vorankommen, denn ich verlangte danach, meine geliebten und trauernden Freunde zu trösten und mit ihnen zu fühlen. Doch als ich mich meiner Heimatstadt näherte, fuhr ich langsamer. Ich konnte den Ansturm der Gefühle kaum ertragen, die mir in den Sinn drängten. Ich fuhr durch Gegenden, die mir aus der Jugend vertraut waren, die ich aber seit fast sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wie mochte sich in dieser Zeit alles verändert haben! Eine jähe und trostlose Veränderung war eingetreten, doch tausend kleine Umstände mochten allmählich noch mehr Veränderungen bewirkt haben, die nicht weniger tiefgreifend sein könnten, obwohl sie stiller abgelaufen wären. Angst überkam mich. Ich wagte nicht weiterzufahren, denn ich befürchtete tausend namenlose Übel, die mich erbeben ließen, obwohl ich außerstande war, sie näher zu bezeichnen:
Zwei Tage blieb ich in dieser qualvollen Gemütsverfassung in Lausanne. Ich betrachtete den See; das Wasser war still; alles ringsum war ruhig, und die schneebedeckten Berge, »die Paläste der Natur«, waren unverändert. Nach und nach stellte die heitere und erhabene Landschaft meine Ruhe wieder her, und ich setzte meine Reise nach Genf fort.
Die Straße verlief am Ufer des Sees, der schmaler wurde, als ich mich meiner Heimatstadt näherte. Ich sah deutlicher die schwarzen Flanken des Jura und den hellen Gipfel des Mont Blanc. Ich weinte wie ein Kind. »Ihr lieben Berge! Mein wunderschöner See! Wie heißt ihr euren Wanderer willkommen? Eure Gipfel sind klar, Himmel und See sind blau und heiter. Soll mir das Frieden verheißen oder meines Jammers spotten?«
Ich fürchte, mein Freund, daß ich zu weitschweifig werde, indem ich bei diesen einleitenden Umständen verweile, doch das waren vergleichsweise Tage des Glücks, und ich denke gern daran zurück. Mein Vaterland, mein geliebtes Vaterland! Wer außer einem Einheimischen kann schildern, welche Seligkeit mich erfüllte, deine Flüsse, deine Berge und, mehr als alles andere, deinen schönen See wiederzusehen!

Doch als ich mich meinem Heim näherte, überwältigten mich erneut Kummer und Angst. Auch brach schon die Nacht herein, und als ich die dunklen Berge kaum noch sehen konnte, fühlte ich mich noch bedrückter. Das vage Bild einer Szene unermeßlichen Unheils tauchte vor mir auf, und ich ahnte dunkel voraus, daß es mir bestimmt war, der unglücklichste aller Menschen zu werden. Ach! ich prophezeite richtig und fehlte nur in dem einen einzigen Umstand, daß ich bei allem Unglück, das ich mir ausmalte und befürchtete, nicht den hundertsten Teil der Qual voraussah, die ich noch erleiden sollte.

Es war ganz dunkel, als ich vor Genf ankam. Die Stadttore waren schon geschlossen, und ich mußte die Nacht in Secheron verbringen, einem Dorf, das eine halbe Meile vor der Stadt liegt. Der Himmel war klar, und weil ich nicht zu schlafen vermochte, beschloß ich die Stelle aufzusuchen, wo mein armer Wilhelm ermordet worden war. Da ich nicht durch die Stadt konnte, mußte ich in einem Boot den See überqueren, um nach Plainpalais zu gelangen. Während dieser kurzen Fahrt sah ich das Wetterleuchten den Gipfel des Mont Blanc in den schönsten Mustern umspielen. Das Gewitter schien sich rasch zu nähern, und nach der Landung stieg ich auf einen flachen Hügel, um zu beobachten, wie es heranzog. Bald war es da. Der Himmel bezog sich, dann spürte ich, wie der Regen langsam mit großen Tropfen einsetzte, doch dann wurde er schnell heftiger.

Ich verließ meinen Platz und ging weiter, obwohl Dunkelheit und Sturm von Minute zu Minute zunahmen und der Donner mit schrecklichem Getöse über meinem Kopf dahinrollte. Vom Salêve, dem Jura und den Savoyer Alpen hallte das Echo. Grelle Blitze blendeten mich, ließen den See wie eine riesige Feuerfläche aufflammen, dann wirkte einen Moment lang alles pechschwarz, bis das Auge sich von dem vorausgegangenen Blitz erholt hatte. Wie es in der Schweiz oft der Fall ist, tauchte das Gewitter gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Himmels auf. Am schwersten hing es genau im Norden der Stadt, über jenem Teil des Sees, der zwischen der Landzunge von Belrive und dem Dorf Copêt liegt. Ein weiteres Gewitter erhellte mit matten Blitzen den Jura, und ein drittes legte gelegentlich den Mole bloß und verhüllte ihn wieder, den spitzgipfeligen Berg östlich des Sees.

Während ich das Unwetter beobachtete, so schön und doch so furchtbar, wanderte ich mit hastigem Schritt weiter. Dieser erhabene Krieg am Himmel hob meine Lebensgeister; ich faltete die Hände und rief laut: »Wilhelm, lieber Engel! Das ist deine Totenfeier, dies dein Grabgesang!« Als ich diese Worte sprach, bemerkte ich in der Dunkelheit eine Gestalt, die sich hinter einer Baumgruppe in meiner Nähe hervorstahl. Ich stand wie gebannt und sah angespannt hin: ich konnte mich nicht irren. Ein Blitz beleuchtete das Wesen und enthüllte mir deutlich seine Umrisse; seine riesige Statur und seine Mißgestalt, gräßlicher, als sie den Menschen eigen ist, klärten mich sofort darüber auf, daß es das Scheusal war, der gemeine Dämon, dem ich das Leben gegeben hatte. Was machte er da? Konnte er (mich schauderte bei der Vorstellung) der Mörder meines Bruders sein? Kaum fuhr mir dieser Gedanke durch den Kopf, war ich von seiner Wahrheit überzeugt. Mir klapperten die Zähne, und ich mußte an einem Baum Halt suchen. Die Gestalt eilte an mir vorbei, und ich verlor sie in der Dunkelheit aus den Augen. Kein menschliches Wesen konnte dieses liebe Kind umgebracht haben. Er war der Mörder! Ich konnte nicht daran zweifeln. Allein schon das Auftauchen des Gedankens war ein unwiderlegbarer Beweis für die Tatsache. Ich dachte daran, den Unhold zu verfolgen. Doch das wäre vergeblich gewesen, denn der nächste Blitz zeigte mir, wie er in den Felsen der nahezu senkrechten Wand des Mont Salêve hing, eines Berges, der Plainpalais im Süden abgrenzt. Bald erreichte er den Gipfel und verschwand.

Ich blieb wie erstarrt stehen. Der Donner hörte auf, doch es regnete immer noch, und die Landschaft war in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt. Ich ließ mir die Ereignisse durch den Kopf gehen, die ich bisher zu vergessen gesucht hatte: den ganzen Verlauf meiner Fortschritte bis zu seiner Erschaffung, das Auftauchen des lebendigen Werks meiner Hände an meinem Bett, sein Verschwinden. Fast zwei Jahre waren inzwischen seit der Nacht vergangen, als er das Leben empfing; und war dies sein erstes Verbrechen? Ach! Ich hatte ein entartetes Scheusal auf die Welt losgelassen, das sich an Blutvergießen und Leiden ergötzte. Hatte er nicht meinen Bruder ermordet?

Niemand kann sich vorstellen, welche Seelenqual ich den Rest der Nacht durchlitt, die ich frierend und durchnäßt im Freien verbrachte. Doch ich spürte die Unbilden des Wetters nicht. Meine Gedanken malten sich fieberhaft Szenen des Unheils und der Verzweiflung aus. Ich sah das Wesen, das ich inmitten der Menschheit ausgesetzt und mit dem Willen und der Fähigkeit ausgestattet hatte, grauenhafte Dinge wie die gerade begangene Tat zu bewirken, fast in einem Licht, als wäre es mein eigener Vampir, mein eigener Geist, aus dem Grabe losgelassen und nunmehr alles zu vernichten gezwungen, was mir lieb und teuer war.

Der Morgen graute. Ich lenkte meine Schritte zur Stadt. Die Tore waren offen, und ich eilte zum Haus meines Vaters. Mein erster Gedanke war, zu enthüllen, was ich von dem Mörder wußte, und seine sofortige Verfolgung zu veranlassen. Doch als ich daran dachte, was ich zu erzählen hätte, stockte ich. Ein Wesen, dem ich selbst Gestalt gegeben und Leben eingeflößt hatte, war mir um Mitternacht zwischen den Steilhängen eines unzugänglichen Berges begegnet. Ich erinnerte mich auch daran, daß mich das Nervenfieber genau zu der Zeit befallen hatte, aus der ich mein Geschöpf datierte, und das hätte meiner ohnehin unwahrscheinlichen Erzählung den Anstrich eines Fieberwahns gegeben. Ich wußte wohl, wenn jemand anderes mir eine solche Eröffnung gemacht hätte, hätte ich das als Gefasel des Wahnsinns angesehen. Außerdem würde das Wesen mit seiner eigentümlichen Konstitution jeder Verfolgung entgehen, selbst wenn man mir so weit glaubte, daß ich meine Verwandten dazu überreden könnte. Und dann, was würde die Verfolgung nützen? Wer konnte ein Geschöpf festsetzen, das imstande war, die überhängenden Steilwände des Mont Salêve zu erklimmen? Diese Überlegungen bestimmten mich, stumm zu bleiben.

Es war etwa fünf Uhr morgens, als ich das Haus meines Vaters betrat. Ich befahl den Dienstboten, die Familie nicht zu wecken, und ging in die Bibliothek, um ihre gewohnte Aufstehzeit abzuwarten.

Sechs Jahre waren vergangen, verstrichen wie ein Traum bis auf die eine unauslöschliche Spur, und ich stand auf demselben Fleck, wo ich zuletzt vor meiner Abreise nach Ingolstadt meinen Vater umarmt hatte. Geliebter, ehrwürdiger Vater! Er war mir noch erhalten geblieben. Ich betrachtete das Bildnis meiner Mutter, das über dem Kamin hing. Es war ein historisches Thema, auf Wunsch meines Vaters gemalt, und stellte Caroline Beaufort dar, wie sie in qualvoller Verzweiflung am Sarg ihres toten Vaters kniete. Ihre Kleidung war ländlich und ihre Wange bleich, doch strahlte sie eine Würde und Schönheit aus, die kaum das Gefühl des Mitleids gestatteten. Unter diesem Gemälde hing eine Miniatur von Wilhelm, und als ich sie sah, kamen mir die Tränen. Indessen trat Ernst ein: er hatte mich kommen hören und war herbeigeeilt, um mich zu begrüßen. Er äußerte kummervolle Freude, mich zu sehen: »Willkommen, liebster Viktor«, sagte er. »Ach! Ich wünschte, du wärest vor drei Monaten gekommen, da hättest du uns alle fröhlich und glücklich angetroffen. Jetzt kommst du zu uns, um unsere Trauer zu teilen, die nichts lindern kann, aber deine Anwesenheit wird hoffentlich unseren Vater wieder aufleben lassen, der offenbar unter seinem Unglück dahinsiecht. Und dein gutes Zureden wird die arme Elisabeth dazu bringen, mit ihren sinnlosen und quälenden Selbstanklagen aufzuhören. Der arme Wilhelm! Er war unser Liebling und unser ganzer Stolz!«

Die Tränen flossen meinem Bruder ungehemmt aus den Augen, tödliche Qual befiel mich. Vorher hatte ich mir den Jammer in meinem trostlosen Vaterhaus nur vorgestellt; die Wirklichkeit brach als neues und nicht weniger schreckliches Unglück über mich herein. Ich versuchte Ernst zu beruhigen; ich erkundigte mich eingehender nach meinem Vater und nach ihr, die ich Kusine nannte.

»Sie braucht am allermeisten Trost«, sagte Ernst, »sie klagte sich an, den Tod meines Bruders verschuldet zu haben, und das machte sie furchtbar niedergeschlagen. Aber seit der Mörder entdeckt ist…«

»Der Mörder entdeckt! Mein Gott! Wie kann das sein? Wer konnte auch nur versuchen, ihm zu folgen? Es ist unmöglich; genausogut könnte man trachten, den Wind einzuholen, oder einen Gebirgsfluß mit einem Strohhalm aufzuhalten. Ich habe ihn auch gesehen, heute nacht war er noch frei!«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, antwortete mein Bruder in verwundertem Ton, »aber für uns macht die Entdeckung, die wir gemacht haben, unser Unglück vollkommen. Zuerst wollte es niemand glauben; und sogar jetzt noch will Elisabeth sich nicht davon überzeugen lassen, trotz aller Beweise. Wirklich, wer hätte es für möglich gehalten, daß Justine Moritz, die so freundlich war und die ganze Familie so lieb hatte, mit einem Mal eines so furchtbaren, so entsetzlichen Verbrechens fähig werden könnte?«

»Justine Moritz! Das arme, arme Mädchen, ist sie die Angeklagte? Aber zu Unrecht. Jeder weiß das. Das glaubt doch sicher niemand, Ernst?«

»Zuerst hat es niemand geglaubt. Aber es stellten sich verschiedene Umstände heraus, die uns nahezu gewaltsam überzeugt haben; und sie hat sich selbst so widersprüchlich verhalten, daß die sachlichen Beweise um so mehr an Gewicht gewonnen haben und somit kaum noch auf Zweifel zu hoffen ist, fürchte ich. Aber heute wird ihr der Prozeß gemacht, dann hörst du ja alles.«

Er erzählte, an dem Morgen, als man den Mord an unserem armen Wühlern entdeckte, sei Justine krank geworden und mehrere Tage ans Bett gefesselt gewesen. In dieser Zeit habe eine der Mägde zufällig die Kleidung durchgesehen, die sie in der Mordnacht getragen hatte, und in einer Tasche das Bildnis meiner Mutter entdeckt, das nach gängiger Meinung den Mörder in Versuchung gebracht hatte. Die Magd habe es sofort einer anderen gezeigt, die, ohne der Familie ein Wort zu sagen, zu einem Polizeirichter gegangen sei. Und auf ihre Aussage hin habe man Justine verhaftet. Als man ihr die Tat vorwarf, habe das arme Mädchen durch ihre extreme Verwirrung den Verdacht in hohem Maße bestätigt.

Das war eine seltsame Geschichte, doch sie vermochte meine Überzeugung nicht zu erschüttern; und ich antwortete ernst: »Ihr irrt euch alle. Ich kenne den Mörder. Justine, die arme gute Justine ist unschuldig.«

In diesem Augenblick kam mein Vater herein. Ich sah den Kummer tief in sein Antlitz eingeprägt, doch er bemühte sich, mich freudig zu begrüßen; und nachdem wir unsere gedrückte Begrüßung ausgetauscht hatten, wollte er ein anderes Thema als das unseres Unglücks anschneiden, hätte Ernst nicht ausgerufen: »Mein Gott, Papa! Viktor sagt, er weiß, wer der Mörder des armen Wilhelm ist.«

»Auch wir wissen es unglücklicherweise«, antwortete mein Vater, »denn ich wäre wirklich lieber für immer ahnungslos geblieben, als so viel Schlechtigkeit und Undankbarkeit bei einer, die ich so hoch schätzte, entdecken zu müssen.«

»Mein lieber Vater, du irrst dich. Justine ist unschuldig.« »Wenn sie es ist, verhüte Gott, daß sie als schuldig verurteilt werden sollte. Heute wird ihr der Prozeß gemacht, und ich hoffe, ich hoffe aufrichtig, daß sie freigesprochen wird.«
Diese Worte beruhigten mich. Ich war fest davon überzeugt, daß Justine, ja, jedes menschliche Wesen an diesem Mord unschuldig war. Deshalb fürchtete ich nicht, daß man irgendwelche Indizienbeweise vorbringen könnte, die so zwingend wären, sie zu verurteilen. Meine Geschichte war nicht von der Art, die man öffentlich verkünden konnte; das Erstaunliche und Schauerliche ihres Inhalts würde das gemeine Volk als Wahnsinn deuten. Gab es denn wirklich irgend jemanden, abgesehen von mir, dem Schöpfer, der, sofern ihn nicht seine fünf Sinne davon überzeugten, an die Existenz des lebenden Denkmals der Anmaßung und voreiligen Ignoranz glauben würde, das ich auf die Welt losgelassen hatte?
Bald gesellte sich Elisabeth zu uns. Die Zeit hatte sie verändert, seit ich sie zuletzt gesehen hatte; sie hatte ihr eine Anmut verliehen, die die Schönheit ihrer Kinderjahre noch überstieg. Es war noch dieselbe Offenheit, dieselbe Lebhaftigkeit, doch sie verbanden sich mit einem Ausdruck, der mehr Feingefühl und Intellekt enthielt. Sie begrüßte mich mit herzlicher Zuneigung. »Deine Ankunft, mein lieber Vetter«, sagte sie, »erfüllt mich mit Hoffnung. Du findest vielleicht einen Weg, meine arme schuldlose Justine zu rechtfertigen. Ach! Wer ist noch sicher, wenn sie des Verbrechens überführt wird? Ich vertraue auf ihre Unschuld so gewiß wie auf meine eigene. Unser Unglück trifft uns doppelt schwer. Nicht nur unseren lieben Herzensschatz haben wir verloren, sondern ein noch schlimmeres Schicksal soll uns dieses arme Mädchen, das ich aufrichtig liebhabe, entreißen. Wenn sie verurteilt wird, kenne ich mein Lebtag keine Freude mehr. Aber das wird sie nicht, ich bin sicher, das wird sie nicht; und dann kann ich wieder froh sein, sogar nach dem schrecklichen Tod meines kleinen Wilhelm.«
»Sie ist unschuldig, meine Elisabeth«, gab ich zurück, »und das wird bewiesen. Fürchte nichts, sondern laß dich durch die Gewißheit ihres Freispruchs aufheitern.«
»Wie gut und großmütig du bist! Alle anderen glauben an ihre Schuld, und das hat mich unglücklich gemacht, denn ich wußte, daß es unmöglich ist. Und als ich alle anderen so grausam voreingenommen erlebte, verlor ich die Hoffnung und war verzweifelt.« Sie weinte.
»Liebste Nichte«, sagte mein Vater, »trockne deine Tränen. Wenn sie, wie du glaubst, unschuldig ist, verlaß dich darauf, daß unsere Gesetze gerecht sind und daß ich tatkräftig den leisesten Schatten der Parteilichkeit verhindern will.«