Einundzwanzigstes Kapitel

Bald führte man mich vor den Friedensrichter, einen alten und gütigen Mann mit ruhigem und mildem Wesen. Er blickte mich jedoch mit einem gewissen Maß von Strenge an. Dann wandte er sich zu meinen Begleitern und fragte, wer in diesem Fall als Zeuge auftrete.

Etwa ein halbes Dutzend Männer trat vor, und nachdem der Friedensrichter einen bezeichnet hatte, gab dieser an, er sei in der vergangenen Nacht mit seinem Sohn und seinem Schwager, David Nugent, zum Fischen ausgefahren, als sie gegen zehn Uhr bemerkten, daß ein steifer Nordwind einsetzte, und deshalb hätten sie auf Land zugehalten. Es sei eine sehr dunkle Nacht gewesen, denn der Mond war noch nicht aufgegangen. Sie hätten nicht den Hafen angelaufen, sondern wie gewöhnlich eine Bucht etwa zwei Meilen davor. Er sei vorausgegangen und habe einen Teil des Geräts getragen, und seine Kameraden seien ihm in einigem Abstand gefolgt. Als er den Strand entlangging, sei er über etwas gestolpert und der Länge nach zu Boden geschlagen. Seine Begleiter seien herangekommen, um ihm zu helfen, und beim Licht ihrer Laterne hätten sie erkannt, daß er auf einen Mann gefallen sei, der allem Anschein nach tot war. Ihre erste Vermutung sei es gewesen, es handele sich um die Leiche einer Person, die ertrunken und von den Wellen an Land geworfen worden sei, doch bei näherer Untersuchung hätten sie festgestellt, daß die Kleidung nicht näß und der Körper noch gar nicht erkaltet war. Sie hätten ihn sofort in die nahe gelegene Kate einer alten Frau getragen und sich, wenn auch vergeblich, bemüht, ihn wiederzubeleben. Es scheine ein gutaussehender junger Mann gewesen zu sein, etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Offenbar sei er erwürgt worden, denn es sei kein Zeichen der Gewaltanwendung zu erkennen gewesen, bis auf die schwarzen Fingerabdrücke an seinem Hals.

Der erste Teil dieser Aussage interessierte mich überhaupt nicht, doch als die Fingermale erwähnt wurden, fiel mir der Mord an meinem Bruder ein, und ich fühlte mich zutiefst erregt. Mir zitterten die Glieder, ein Schleier legte sich vor meine Augen und zwang mich, mich auf einen Stuhl zu stützen. Der Friedensrichter beobachtete mich mit scharfem Auge und zog aus meinem Verhalten natürlich einen nachteiligen Schluß.

Der Sohn bestätigte den Bericht des Vaters, doch als man Daniel Nugent aufrief, nahm er es auf seinen Eid, er habe unmittelbar, bevor sein Kamerad stolperte, in kurzer Entfernung von der Küste ein Boot mit einem einzelnen Mann darin gesehen. Und soweit er es beim Licht einiger weniger Sterne habe beurteilen können, handele es sich um dasselbe Boot, in dem ich soeben gelandet sei.

Eine Frau sagte aus, sie wohne nahe am Strand und habe etwa eine Stunde, bevor sie von der Entdeckung der Leiche erfahren habe, vor der Tür ihrer Kate gestanden und auf die Rückkehr der Fischer gewartet, als sie ein Boot mit nur einem Mann darin von jenem Teil der Küste habe ablegen sehen, wo man später die Leiche gefunden habe.

Eine andere Frau bestätigte die Aussage der Fischer, die die Leiche in ihr Haus gebracht hatten. Sie sei noch nicht erkaltet gewesen. Sie hätten sie auf ein Bett gelegt und abgerieben, und Daniel sei nach einem Apothekerdoktor in die Stadt gelaufen, aber das Leben sei bereits erloschen gewesen.

Man befragte noch einige Männer nach meiner Landung: sie waren sich einig, bei dem steifen Nordwind, der in der Nacht aufgekommen war, sei ich sehr wahrscheinlich viele Stunden lang umhergekreuzt und habe fast an dieselbe – Stelle zurückkehren müssen, von der ich abgelegt hätte. Außerdem bemerkten sie, anscheinend hätte ich die Leiche von woanders hergebracht, und da ich mit dieser Küste offenkundig nicht vertraut sei, sei ich mir beim Einlaufen in den Hafen möglicherweise nicht darüber im klaren gewesen, wie nahe die Stadt… bei der Stelle liege, wo ich die Leiche zurückgelassen hätte.

Nachdem sich Mr. Kirwin diese Aussage angehört hatte, ordnete er an, mich in den Raum zu führen, wo die Leiche bis zur Bestattung untergebracht war, um beobachten zu können, wie der Anblick auf mich wirkte. Dieser Gedanke kam ihm wohl angesichts der starken Erregung, die ich offenbart hatte, als man die Art des Mordes beschrieb. Also führten mich der Friedensrichter und mehrere andere Personen zum Gasthaus. Es war unvermeidlich, daß ich angesichts des seltsamen Zusammentreffens der Ereignisse stutzig wurde, die sich in dieser bewegten Nacht zugetragen hatten. Doch da ich wußte, daß ich um die Zeit, da man die Leiche fand, mit mehreren Leuten auf meiner Insel gesprochen hatte, blieb ich hinsichtlich der Folgen dieser Sache vollkommen gelassen.

Ich trat in das Zimmer, wo die Leiche lag, und wurde an den Sarg geführt. Wie kann ich meine Gefühle beschreiben, als ich ihn erblickte? Jetzt noch bin ich vor Grauen wie ausgedörrt, kann auch nicht ohne Schaudern und Qual an jenen furchtbaren Augenblick denken. Die Vernehmung, die Gegenwart des Friedensrichters und der Zeugen schwanden wie ein Traum aus meinem Bewußtsein, als ich Henri Clervals leblose Gestalt vor mir ausgestreckt sah. Ich rang nach Luft, warf mich über die Leiche und rief: »Haben meine mörderischen Machenschaften auch dich, liebster Henri, das Leben gekostet? Zwei habe ich schon vernichtet, weiteren Opfern steht ihr Schicksal bevor, aber du, Clerval, mein Freund, mein Wohltäter…«

Die Menschennatur vermochte nicht länger die Qualen zu ertragen, die ich litt, und man mußte mich in heftigen Krämpfen aus dem Zimmer tragen.

Darauf folgte ein Fieber. Zwei Monate lang lag ich auf den Tod. Meine Phantasien, erfuhr ich später, waren fürchterlich; ich nannte mich den Mörder Wilhelms, Justines und Clervals. Manchmal flehte ich meine Pfleger an, mir bei der Vernichtung des Unholds zu helfen, der mich folterte, dann wieder fühlte ich die Finger des Ungeheuers bereits an meinem Hals und schrie laut vor grauenvoller Todesangst. Da ich in meiner Muttersprache redete, verstand mich zum Glück nur Mr. Kirwin, doch meine Schreie und bitteren Tränen genügten, um die übrigen Zeugen in Angst und Schrecken zu versetzen.

Warum bin ich nicht gestorben? So unglücklich, wie es noch nie ein Mensch vor mir war, warum bin ich nicht in Stille und Vergessen gesunken? Der Tod rafft so viele blühende Kinder dahin, die einzige Hoffnung ihrer liebenden Eltern. Wie viele Bräute und junge Liebende haben an einem Tag in der Blüte der Gesundheit und Hoffnung gestanden und sind am nächsten den Würmern und der Verwesung des Grabes zum Opfer gefallen! Aus welchem Stoff war ich geschaffen, daß ich so vielen Erschütterungen widerstehen konnte, die, wie die Umdrehung eines Rades, die Folter beständig erneuerten?

Doch ich war dazu verurteilt, am Leben zu bleiben. Und nach zwei Monaten fand ich mich, wie aus einem Traum erwachend, in einem Gefängnis wieder, auf einer elenden Bettstatt ausgestreckt, von Wärtern, Schließern und all dem elenden Zubehör eines Kerkers umgeben. Es war Morgen, entsinne ich mich, als ich so zum Bewußtsein erwachte: ich hatte vergessen, was im einzelnen geschehen war, sondern hatte nur das Gefühl, daß mich unversehens ein großes Unglück überwältigt habe. Doch als ich mich umsah und die vergitterten Fenster erblickte und die Kahlheit des Raumes, in dem ich mich befand, blitzte alles in meinem Gedächtnis auf, und ich stöhnte bitterlich.

Dieser Laut weckte eine alte Frau, die in einem Sessel neben mir schlief. Sie war eine gedungene Krankenwärterin, die Frau eines Schließers, und aus ihrem Gesicht sprachen alle jene schlechten Eigenschaften, die diesen Stand so oft kennzeichnen. Ihre Züge waren hart und grob, wie bei Menschen, die es gewöhnt sind, Bilder des Jammers zu sehen, ohne Anteil zu nehmen. Ihr Ton drückte völlige Gleichgültigkeit aus. Sie sprach mich auf Englisch an, und ich erkannte ihre Stimme als eine derer wieder, die ich während meiner Krankheit gehört hatte:

»Geht es Ihnen wieder besser, Sir?« fragte sie.

Ich antwortete mit schwacher. Stimme in derselben Sprache: »Ich glaube. Aber wenn es alles wahr ist, wenn ich wirklich nicht geträumt habe, bedaure ich, daß ich noch am Leben bin, um all dieses Unglück und Grauen zu fühlen.«

»Was das anbetrifft«, antwortete die Alte, »wenn Sie von dem Herrn sprechen, den Sie ermordet haben, wäre es für Sie wohl besser, Sie wären tot, denn ich glaube, Ihnen wird es schlecht gehen! Aber das hat mich nicht zu kümmern. Ich soll sie pflegen und gesundmachen. Ich tue meine Pflicht mit ruhigem Gewissen, es wäre gut, wenn jeder das täte.«

Ich wandte mich mit Abscheu von der Frau ab, die so gefühllose Worte an einen soeben vom Rande des Todes geretteten Menschen richten konnte, doch ich war zu matt und außerstande, über all das nachzudenken, was geschehen war. Der ganze Verlauf meines Lebens erschien mir wie ein Traum. Manchmal bezweifelte ich, ob auch alles wahr sei, denn es stellte sich meinem Sinn nie mit dem Nachdruck der Wirklichkeit dar.

Als die Bilder, die vor mir schwebten, deutlicher wurden, stieg mein Fieber. Dunkelheit umschloß mich. Niemand war bei mir, der mich mit der sanften Stimme der Liebe beschwichtigt hätte. Keine liebende Hand stützte mich. Der Arzt kam und verschrieb Arzneien, und die alte Frau bereitete sie für mich zu. Doch ersterem war die äußerste Gleichgültigkeit anzumerken, und im Gesicht der letzteren zeichnete sich deutlich der Ausdruck der Roheit ab. Wer konnte sich für das Schicksal eines Mörders interessieren, abgesehen vom Henker, der seinen Lohn dafür bekommen würde?

Das waren meine ersten Überlegungen; doch bald erfuhr ich, daß Mr. Kirwin mir äußerste Güte erwiesen hatte. Er hatte mir den besten Raum im Gefängnis herrichten lassen (der beste war wahrlich erbärmlich genug); er war es auch, der für einen Arzt und eine Pflegerin gesorgt hatte. Gewiß, er besuchte mich selten, denn obwohl er die Leiden jedes menschlichen Wesens zu lindern bestrebt war, mochte er nicht bei den qualvollen, schändlichen Rasereien eines Mörders zugegen sein. Deshalb kam er manchmal, um nachzusehen, ob man mich nicht vernachlässigte; doch seine Besuche waren kurz und geschahen in langen Abständen.

Eines Tages, während ich mich allmählich erholte, saß ich auf einem Stuhl, die Augen halb geschlossen und die Wangen bleich wie der Tod. Ich war von Schwermut und Pein überwältigt und dachte oft genug, ich täte besser daran, den Tod zu suchen, als in einer Welt bleiben zu wollen, die für mich von Gram erfüllt war. Einmal überlegte ich, ob ich mich nicht schuldig bekennen und die Strafe des Gesetzes erleiden sollte, weniger unschuldig, als es die arme Justine gewesen war. Solcherart waren meine Gedanken, als die Tür meines Zimmers aufging und Mr. Kirwin eintrat. Sein Gesicht drückte Anteilnahme und Mitleid aus. Er zog einen Stuhl dicht an den meinen heran und sprach mich auf französisch an:

»Ich fürchte, hier ist es für Sie sehr unangenehm. Kann ich irgend etwas tun, um es für Sie behaglicher zu machen?«
»Ich danke Ihnen; aber was Sie erwähnen, bedeutet mir nichts. Auf der ganzen Welt gibt es nichts, was mich trösten könnte.«
»Ich weiß, daß die Anteilnahme eines Fremden nur wenig Erleichterung für einen Menschen bedeutet, der wie Sie von einem seltsamen Mißgeschick überwältigt worden ist. Aber ich hoffe, Sie werden diese düstere Unterkunft bald verlassen, denn zweifellos lassen sich leicht Beweise herbeischaffen, um Sie von der Anklage eines Verbrechens zu befreien.«
»Das ist meine geringste Sorge. Ich bin durch eine Kette eigenartiger Ereignisse zum unglücklichsten aller Sterblichen geworden. Verfolgt und gemartert, wie ich es war und bin, kann der Tod mir noch ein Unglück bedeuten?«
»In der Tat konnte nichts tragischer und schmerzlicher sein als die sonderbaren Zufälle, die sich kürzlich ereignet haben. Sie sind durch einen überraschenden Zufall an diese Küste geworfen worden, die für ihre Gastfreundschaft berühmt ist, wurden auf der Stelle verhaftet und des Mordes angeklagt. Der erste Anblick, den Ihre Augen zu sehen bekamen, war die Leiche Ihres Freundes, der auf so unerklärliche Weise ermordet und Ihnen von irgendeinem Teufel sozusagen vor die Füße gelegt worden ist.«

Als Mr. Kirwin das sagte, empfand ich trotz der Erschütterung, in die mich dieser Rückblick versetzte, doch auch erhebliche Überraschung, daß er über mich anscheinend so gut Bescheid wußte. Ich nehme an, auf meiner Miene zeichnete sich die Verwunderung ab, denn Mr. Kirwin beeilte sich fortzufahren:

»Unmittelbar, nachdem Sie erkrankten, brachte man mir alle Papiere, die Sie bei sich hatten, und ich prüfte sie, um irgendeinen Anhaltspunkt zu entdecken, wie ich Ihren Angehörigen eine Nachricht von Ihrem Mißgeschick und Ihrer Krankheit übermitteln könnte. Ich fand mehrere Briefe, darunter einen, den ich, nach der Anrede zu schließen, als ein Schreiben Ihres Vaters erkannte. Ich schrieb sofort nach Genf: seit der Absendung meines Briefes sind fast zwei Monate vergangen. Doch Sie sind krank, sogar jetzt zittern Sie. Sie sind keinerlei Aufregungen gewachsen.«

»Diese Ungewißheit ist tausendmal schlimmer als das furchtbarste Ereignis: sagen Sie mir, welche neue Todesszene sich abgespielt hat und wessen Ermordung ich jetzt beklagen muß!«

»Ihre Familie ist ganz wohlauf«, sagte Mr. Kirwin behutsam, »und jemand, ein Freund, ist gekommen, Sie zu besuchen.«
Ich weiß nicht, welcher Gedankengang die Idee ausgelöst hatte, doch mir schoß sofort durch den Sinn, der Mörder sei gekommen, um über mein Unglück zu spotten und mich mit Clervals Tod zu verhöhnen und mir damit einen neuen Ansporn zu geben, seinen höllischen Wünschen zu willfahren. Ich verdeckte mit den Händen meine Augen und schrie voller Qual:

»Ach! Bringt ihn fort! Ich kann ihn nicht sehen! Um Gottes willen, laß ihn nicht herein!«

Mr. Kirwin musterte mich mit beunruhigter Miene. Er konnte nicht umhin, meinen Ausruf als ein Indiz meiner Schuld zu betrachten, und sprach in recht strengem Ton:

»Junger Mann, ich hätte gedacht, die Gegenwart Ihres Vaters wäre Ihnen willkommen, statt so heftige Abwehr hervorzurufen.«

»Mein Vater!« rief ich, während jeder Gesichtszug und jeder Muskel sich von der Angst zur Freude entspannte. »Ist mein Vater wirklich gekommen? Wie gut von ihm, wie herzensgut! Aber wo ist er, warum kommt er nicht zu mir geeilt?« .

Der Wandel in meinem Verhalten überraschte und freute den Friedensrichter. Vielleicht dachte er, mein voriger Ausruf sei auf einen flüchtigen Rückfall des Fieberwahns zurückzuführen, und jetzt nahm er sofort wieder seine wohlwollende Haltung von vorher an. Er stand auf und verließ mit meiner Pflegerin den Raum, und im nächsten Augenblick trat mein Vater ein.

Nichts hätte mir in diesem Moment größere Freude machen können als die Ankunft meines Vaters. Ich streckte ihm die Hand entgegen und rief:

»Du bist also wohlauf – und Elisabeth – und Ernst?«

Mein Vater beruhigte mich mit Beteuerungen, daß es ihnen gut gehe, und bemühte sich, indem er auf diesen für mein Herz so wichtigen Themen verweilte, meine niedergeschlagene Stimmung zu heben. Doch bald empfand er, daß ein Gefängnis nicht die Heimstatt des Frohsinns sein kann. »Was ist das für ein Ort, an dem du dich aufhältst, mein Sohn!« sagte er und betrachtete traurig die vergitterten Fenster und den elenden Anblick der Zelle. »Du bist verreist, um das Glück zu suchen, aber dich scheint ein Verhängnis zu verfolgen. Und der arme Clerval…«

Der Name meines unglücklichen ermordeten Freundes bedeutete eine zu große Aufregung, die ich in meinem geschwächten Zustand nicht ertragen konnte. Ich vergoß Tränen.

»Ach! Ja, mein Vater«, antwortete ich, »ein Schicksal der furchtbarsten Art schwebt über mir, und ich muß am Leben bleiben, um es zu erfüllen, sonst wäre ich gewiß an Henris Sarg gestorben.«

Wir durften uns nicht allzu lange unterhalten, denn meine angegriffene Gesundheit machte jede Vorkehrung notwendig, mir völlige Ruhe zu gewährleisten. Mr. Kirwin kam herein und beharrte darauf, meine Kraft nicht durch zu große Belastungen zu erschöpfen. Doch das Erscheinen meines Vaters war für mich wie das meines Schutzengels, und allmählich gewann ich meine Gesundheit wieder.

Als meine Krankheit mich verließ, versank ich in schwarzer, düsterer Melancholie, die nichts zu zerstreuen vermochte. Stets stand Clervals geisterhaftes Bild vor mir, dahingemordet. Mehr als einmal ließ die Erregung, in die diese Gedanken mich versetzten, meine Freunde einen gefährlichen Rückfall befürchten. Ach! Warum haben sie ein so elendes und nichtswürdiges Leben erhalten? Sicherlich, damit ich mein Geschick erfüllen könne, das sich jetzt seinem Ende nähert. Bald, ach, sehr bald wird der Tod dieses schmerzhafte Pochen auslöschen und mich von der mächtigen Last der Seelenqual erlösen, die mich in den Staub drückte. Und indem ich den Urteilsspruch der Gerechtigkeit ausführe, werde auch ich zur Ruhe sinken. Damals war der Auftritt des Todes noch fern, obwohl der Wunsch in meinem Denken stets gegenwärtig war; und oft saß ich stundenlang starr und wortlos da und wünschte mir eine mächtige Umwälzung herbei, die mich und meinen Vernichter unter Ruinen begrübe.

Die Zeit der Assisen rückte heran. Ich saß schon seit drei Monaten im Gefängnis, und obwohl ich noch schwach war und in der ständigen Gefahr eines Rückfalls schwebte, war ich genötigt, fast hundert Meilen weit zur Hauptstadt der Grafschaft zu reisen, wo das Gericht tagte. Mr. Kirwin übernahm es mit aller Sorgfalt, Zeugen zusammenzubringen und meine Verteidigung vorzubereiten. Mir blieb die Schande erspart, öffentlich als Verbrecher in Erscheinung zu treten, da der Fall nicht vor das Gericht kam, das über Leben und Tod entscheidet. Das große Schwurgericht wies die Klage ab, nachdem bewiesen worden war, daß ich mich zu der Stunde, da der Leichnam meines Freundes gefunden wurde, auf den Orkneyinseln befand. Und zwei Wochen nach meiner Verlegung wurde ich aus der Haft entlassen.

Mein Vater war vor Freude außer sich, daß ich von den Belastungen eines Kriminalprozesses verschont blieb, wieder die frische Luft atmen und in mein Vaterland zurückkehren durfte. Ich teilte diese Gefühle nicht. Mir waren die Mauern eines Kerkers oder eines Palastes gleichermaßen verhaßt. Der Becher des Lebens war mir für immer vergiftet; und wenngleich die Sonne auf mich herabschien wie auf die Glücklichen und Herzensfrohen, sah ich um mich her nichts als schreckliche dichte Dunkelheit, die kein Licht durchdrang außer dem Funkeln zweier Augen, die mich anstarrten. Manchmal waren es Henris ausdrucksvolle Augen, todesmatt, die dunkle Iris von den Lidern fast bedeckt und von den langen schwarzen Wimpern gesäumt, manchmal waren es die wäßrigen, trüben Augen des Ungeheuers, wie ich sie zuallererst in meiner Kammer in Ingolstadt sah.

Mein Vater gab sich Mühe, die Regungen der Liebe in mir zu wecken. Er sprach von Genf, das ich bald wiedersehen würde – von Elisabeth und Ernst. Doch diese Worte entlockten mir nur tiefe Seufzer. Manchmal verspürte ich allerdings den Wunsch nach Glück und dachte mit schwermütiger Freude an meine geliebte Kusine. Oder ich sehnte mich mit verzehrendem maladie du pays danach, noch einmal den blauen See und die flinke Rhone zu sehen, die mir in der Kindheit so viel bedeutet hatten. Doch im allgemeinen war mein Gefühlszustand eine Betäubung, in der mir ein Gefängnis als Wohnung genauso willkommen war wie die herrlichste Landschaft in der Natur; und diese Episoden wurden kaum jemals von etwas anderem unterbrochen als Anfällen der Angst und Verzweiflung. In diesen Augenblicken versuchte ich oft, meinem verabscheuten Dasein ein Ende zu machen. Und es bedurfte unaufhörlicher Fürsorge und Wachsamkeit, um mich von irgendeinem furchtbaren Gewaltakt abzuhalten.

Doch eine Pflicht blieb mir noch, und die Erinnerung daran siegte endlich über meine selbstbezogene Verzweiflung. Ich mußte notwendig ohne Aufschub nach Genf zurückkehren, um dort das Leben jener zu behüten, die ich so zärtlich liebte, es war meine Pflicht, dem Mörder aufzulauern, und falls mich ein Zufall zu seinem Versteck führte, oder falls er es noch einmal wagte, mich mit seiner Gegenwart heimzusuchen, mit sicherer Hand der Existenz des gräßlichen Zerrbildes, das ich mit dem Spottgebilde einer noch gräßlicheren Seele ausgestattet hatte, ein Ende zu machen. Mein Vater war immer noch bestrebt, unsere Abreise aufzuschieben, fürchtete er doch, ich sei den Anstrengungen einer Reise nicht gewachsen; denn ich war ein zerrüttetes Wrack – der Schatten eines Menschen. Meine Kraft war dahin. Ich war ein bloßes Skelett, und das Fieber nagte Tag und Nacht an meinem abgezehrten Körper.

Da ich jedoch mit solcher Unruhe und Ungeduld darauf drängte, Irland zu verlassen, hielt es mein Vater für richtig, nachzugeben. Wir wählten für unsere Überfahrt ein Schiff nach Havre de Grace und segelten mit günstigem Wind von der irischen Küste ab. Es war Mitternacht. Ich lag an Deck, blickte zu den Sternen auf und lauschte dem Rauschen der Wellen. Die Dunkelheit, die Irland meinen Blicken entzog, war mir willkommen. Und mein Puls pochte in freudigem Fieber, wenn ich daran dachte, daß ich bald Genf wiedersehen sollte. Die Vergangenheit erschien mir im Licht eines Alptraumes; doch das Schiff, auf dem ich mich befand, der Wind, der mich von Irlands verhaßter Küste fortwehte, und das Meer, das mich umgab, machten mir nur zu zwingend klar, daß mich kein Traumbild täuschte und daß Clerval, mein Freund und liebster Gefährte, mir und dem von mir erschaffenen Ungeheuer zum Opfer gefallen war. Ich ging in meinem Gedächtnis mein ganzes Leben durch. Mein stilles Glück, solange ich bei meiner Familie in Genf wohnte, der Tod meiner Mutter und meine Abreise nach Ingolstadt. Ich entsann mich schaudernd der wahnwitzigen Begeisterung, die mich zur Erschaffung meines scheußlichen Widersachers vorantrieb, und ich rief mir die Nacht in Erinnerung, als er zu leben begann. Ich war außerstande, den Gedankengang weiterzuverfolgen; tausenderlei Gefühle stürmten auf mich ein, und ich weinte bitterlich. Seit meiner Genesung von dem Fieber hatte ich mir angewöhnt, jeden Abend eine kleine Dosis Laudanum einzunehmen, denn nur mit Hilfe dieser Droge vermochte ich den zur Erhaltung des Lebens notwendigen Schlaf zu erzielen. Vom Gedenken an die Kette meiner Schicksalsschläge bedrückt, nahm ich jetzt das Doppelte meiner gewohnten Dosis und schlief bald fest. Doch der Schlaf schenkte mir keine Erholung vom qualvollen Grübeln. Meine Träume malten mir tausend Dinge aus, die mich ängstigten. Gegen Morgen erfaßte mich eine Art Alptraum. Ich spürte den Griff des Unholds an meinem Hals und konnte mich nicht davon befreien, Seufzer und Schreie hallten mir in den Ohren. Mein Vater, der an meinem Lager wachte, nahm meine Unruhe wahr und weckte mich; die rauschenden Wellen umgaben mich, über mir war der bewölkte Himmel; der Unhold war nicht da. Ein Gefühl der Sicherheit, der Eindruck, daß zwischen der gegenwärtigen Stunde und der unvermeidlich bevorstehenden vernichtenden Zukunft eine Art Waffenruhe eingetreten sei, schenkte mir ein gewisses Maß gelassener Selbstvergessenheit, für die das menschliche Gemüt seiner Natur nach besonders empfänglich ist.