Zweiundzwanzigstes Kapitel

Unsere Seereise ging zu Ende. Wir landeten und fuhren nach Paris weiter. Ich bemerkte bald, daß ich meine Kraft überfordert hatte und mich erholen mußte, bevor ich meine Reise fortsetzen konnte. Die Fürsorge und Pflege meines Vaters waren unermüdlich. Doch er kannte den Ursprung meiner Leiden nicht und versuchte irrige Mittel, um dem unheilbaren Übel abzuhelfen. Er wünschte, daß ich mir Unterhaltung suche und mich dazu unter die Menschen begebe. Mir war das Antlitz des Menschen abscheulich. Ach, nicht abscheulich. Sie waren meine Brüder, meine Mitmenschen, und ich fühlte mich sogar noch zu den abstoßendsten unter ihnen hingezogen, als Geschöpfen von engelhaftem Wesen und himmlisch vollkommenem Antrieb und Mechanismus. Doch nach meinem Empfinden hatte ich nicht das Recht, mit ihnen Umgang zu pflegen. Ich hatte einen Feind auf sie losgelassen, der sich eine Freude daraus machte, ihr Blut zu vergießen und sich an ihrem Stöhnen zu weiden. Wie würden sie allesamt mich verabscheuen und aus der Welt vertreiben, wüßten sie von meinen verruchten Handlungen und von Verbrechen, die in mir ihren Ursprung hatten!

Mein Vater fügte sich schließlich meinem Wunsch, die Menschen zu meiden, und bemühte sich mit verschiedenen Argumenten, meine Verzweiflung zu bekämpfen. Manchmal glaubte er, ich litte tief an der Erniedrigung, eine Mordanklage über mich ergehen zu lassen, und er versuchte mich von der Sinnlosigkeit des Stolzes zu überzeugen.

»Ach, mein Vater!« erwiderte ich. »Wie wenig du mich kennst. Die Menschen, ihre Gefühle und Leidenschaften, wären wahrlich erniedrigt, wenn ein Elender wie ich Stolz empfände. Justine, die arme unglückliche Justine, war so unschuldig wie ich, und sie mußte sich gegen die gleiche Anklage verteidigen. Sie kam deshalb ums Leben, und ich bin die Ursache – ich habe sie ermordet. Wilhelm, Justine und Henri – sie alle sind durch meine Hand umgekommen.«
Während meiner Haft hatte mein Vater mich oft dieselbe Behauptung äußern hören. Wenn ich mich derart selbst beschuldigte, schien er manchmal nach einer Erklärung verlangen zu wollen, und dann wieder schien er es als eine Ausgeburt des Fieberwahns zu betrachten und der Annahme zuzuneigen, im Laufe meiner Krankheit sei ein Gedanke solcher Art in meiner Phantasie aufgetaucht und sei während meiner Genesung in meinem Gedächtnis geblieben. Ich wich einer Erklärung aus und wahrte fortgesetzt Schweigen über das Scheusal, das ich erschaffen hatte. Ich war überzeugt, man würde mich für verrückt halten, und das allein hätte mir den Mund für immer versiegelt. Doch außerdem konnte ich mich nicht dazu überwinden, ein Geheimnis zu enthüllen, das meinen Zuhörer mit Bestürzung erfüllen und die Angst und ein unnatürliches Grausen in seiner Brust wecken würde. Deshalb zügelte ich mein brennendes Verlangen nach Anteilnahme und schwieg, wo ich eine Welt darum gegeben hätte, jemandem das verhängnisvolle Geheimnis anzuvertrauen. Aber dennoch brachen oft Worte wie die vorhin wiedergegebenen unbeherrschbar aus mir heraus. Ich konnte keine Erklärung für sie geben, doch ihr Wahrheitsgehalt erleichterte ein wenig die Last meines geheimnisvollen Leids.

Bei dieser Gelegenheit sagte mein Vater mit einem Ausdruck grenzenloser Verwunderung: »Liebster Viktor, was ist das für eine Verblendung? Mein lieber Sohn, ich bitte dich herzlich, nie wieder so eine Behauptung auszusprechen.«

»Ich bin nicht verrückt!« rief ich mit Nachdruck. »Die Sonne und der Himmel, die meine Handlungen beobachtet haben, können die Wahrheit meiner Worte bezeugen. Ich bin der Mörder dieser gänzlich unschuldigen Opfer, sie sind durch meine Machenschaften umgekommen. Tausendmal lieber hätte ich mein eigenes Blut vergossen, Tropfen für Tropfen, um ihnen das Leben zu retten, aber ich konnte es nicht, mein Vater, ich konnte wirklich nicht die ganze Menschheit opfern.«

Der Schluß dieser Äußerung überzeugte meinen Vater davon, daß mein Geist zerrüttet sei, und er wechselte sofort das Thema unseres Gesprächs und gab sich Mühe, meinen Gedankenfluß in andere Bahnen zu lenken. Er war bestrebt, die Erinnerung an die Szenen, die sich in Irland abgespielt hatten, so weit wie möglich auszulöschen, spielte nie darauf an und litt es auch nicht, daß ich von meinen niederdrückenden Erlebnissen sprach.

Im Lauf der Zeit wurde ich ruhiger; das Leid hatte sich in meinem Herzen eingenistet, doch ich sprach nicht mehr auf diese zerfahrene Weise von meinen Verbrechen; mir genügte das Bewußtsein ihrer Existenz. Ich tat mir äußerste Gewalt an, die gebieterische Stimme der Qual zu unterdrücken, die manchmal danach verlangte, sich vor der ganzen Welt zu eröffnen; und ich gab mich ruhiger und gefaßter als jemals seit meiner Reise zu dem Gletscher.

Wenige Tage, bevor wir Paris in Richtung Schweiz verließen, bekam ich folgenden Brief von Elisabeth:

»Genf, 18. Mai 17.

Mein lieber Freund,
mit größter Freude habe ich von meinem
Onkel aus Paris einen Brief erhalten. Ihr seid nicht mehr in
ungeheurer Ferne, und ich darf hoffen, Euch in weniger als
zwei Wochen wiederzusehen. Mein armer Vetter, wie sehr mußt Du gelitten haben! Ich bin darauf gefaßt, daß Du noch kränker aussiehst als bei Deiner Abreise aus Genf. Dieser Winter ist ganz trübselig vergangen, denn Sorge und Ungewißheit haben mich gefoltert. Doch ich hoffe, daß ich von Deiner Miene den Ausdruck des Friedens ablesen kann und Gewißheit finde, daß Dein Herz nicht ganz des Trostes und der inneren Ruhe entbehrt.
Doch fürchte ich, daß Dich noch die gleichen Gefühle beherrschen, die Dich vor einem Jahr so unglücklich gemacht haben, ja, vielleicht hat die Zeit sie sogar vermehrt. Ich möchte Dich eben jetzt nicht aufregen, wo so viel Unglück auf Dir lastet. Aber ein Gespräch, das ich mit Deinem Onkel vor seiner Abreise geführt habe, macht eine Erklärung notwendig, bevor wir uns wiedersehen.
Erklärung, sagst Du vielleicht; was kann Elisabeth zu erklären haben? Wenn Du das wirklich sagst, sind meine Fragen beantwortet und alle meine Zweifel gelöscht. Doch Du bist fern von mir, und es ist möglich, daß Du diese Erklärung fürchtest und doch froh darüber bist. Sollte dies der Fall sein, wage ich nicht länger aufzuschieben, Dir zu schreiben, was ich Dir während Deiner Abwesenheit schon oft hätte mitteilen wollen, doch hatte ich nie den Mut dazu.
Du weißt sehr wohl, Viktor, daß unsere Heirat seit unserer Kindheit der Lieblingsplan Deiner Eltern war. Man hat uns das gesagt, als wir noch ganz jung waren, und hat uns gelehrt, dem als einem Ereignis entgegenzublicken, das mit Sicherheit eintreten werde. In der Kindheit waren wir zärtliche Spielgefährten und als wir älter wurden Freunde, die einander liebten und schätzten, wie ich meine. Doch wie Bruder und Schwester oft eine starke Zuneigung füreinander empfinden, ohne nach einer intimeren Verbindung zu verlangen, könnte das nicht auch bei uns der Fall sein? Sage es mir, liebster Viktor. Antworte mir, ich beschwöre Dich bei unserem beiderseitigen Glück, mit der schlichten Wahrheit – liebst Du eine andere? Du warst auf Reisen, Du hast mehrere Jahre Deines Lebens in Ingolstadt verbracht. Und ich gestehe Dir, mein Freund, als ich Dich im vergangenen Herbst so unglücklich erlebte, vor der Gesellschaft jedes Menschen in die Einsamkeit fliehend, konnte ich dem Verdacht nicht ausweichen, daß Du womöglich unsere Bindung bedauertest und Dich ehrenhalber verpflichtet fühltest, den Wunsch Deiner Eltern zu erfüllen, obwohl er Deiner Neigung widerspräche. Doch das wäre eine falsche Schlußfolgerung. Ich gestehe Dir, mein Freund, daß ich Dich liebe und daß Du in meinen beschwingten Zukunftsträumen stets mein Freund und Gefährte gewesen bist. Jedoch habe ich Dein Glück genau wie das meine im Sinn, wenn ich Dir erkläre, daß unsere Heirat mich auf ewig unglücklich machen würde, sofern sie für Dich nicht das Gebot Deiner freien Wahl wäre. Sogar jetzt weine ich bei dem Gedanken, daß Du, ohnehin durch das grausamste Unglück niedergedrückt, womöglich mit dem Wort Ehre alle Hoffnung auf jene Liebe und jenes Glück erstickst, die allein Dich wieder aufrichten würden. Ich, die eine so uneigennützige Liebe für Dich hegt, könnte Dein Elend verzehnfachen, wenn ich ein Hindernis für Deine Wünsche darstellte. Ach, Viktor! Sei versichert, daß Deine Kusine und Spielgefährtin eine zu aufrichtige Liebe zu Dir hegt, als daß diese Vermutung sie nicht betrüben müßte. Werde glücklich, mein Freund. Und wenn Du dieser meiner einzigen Bitte nachkommst, sei überzeugt, daß nichts auf Erden die Macht hat, meine Seelenruhe zu stören.
Laß Dich von diesem Brief nicht beunruhigen. Wenn es Dir weh tut, antworte nicht morgen oder übermorgen oder auch nur vor Deiner Rückkehr. Mein Onkel wird mich über Dein Befinden unterrichten. Und wenn wir uns wiedersehen und ich ein Lächeln auf Deinen Lippen sehe, angeregt von dieser Äußerung oder anderen Bemühungen meinerseits, brauche ich kein anderes Glück.
Elisabeth Lavenza.«

Dieser Brief weckte in meiner Erinnerung, was ich vorher vergessen hatte, die Drohung des Unholds: »In deiner Hochzeitsnacht bin ich bei dir!« Dazu war ich verurteilt, und in jener Nacht würde der Dämon jede List anwenden, um mich zu vernichten und mich von dem flüchtigen Blick auf das Glück fortreißen, der meine Leiden teilweise zu beschwichtigen versprach. In jener Nacht wollte er mit meinem Tod seine Verbrechen zum Gipfel führen. Nun, so sollte es sein. Mit Sicherheit würde dann ein tödlicher Kampf stattfinden, und falls er siegte, würde ich dabei meinen Frieden finden, und seine Macht über mich wäre zu Ende. Würde er bezwungen, wäre ich ein freier Mann. Ach! Welche Freiheit denn? Wie sie der Bauer genießt, wenn man seine Familie vor seinen Augen hingemetzelt, seine Kate niedergebrannt, seine Äcker verwüstet hat und er dahintreibt, heimatlos, bettelarm und allein, aber frei. So würde meine Freiheit aussehen, ausgenommen, daß ich in meiner Elisabeth einen Schatz besaß, ach, im Gleichgewicht mit jenen Schrecken der Reue und Schuld, die mich bis zum Tode verfolgen würden.

Süße, geliebte Elisabeth! Immer wieder las ich ihren Brief, und manche linderen Gefühle stahlen sich in mein Herz und wagten mir paradiesische Träume von Liebe und Glück zuzuflüstern. Doch der Apfel war schon verzehrt und der Arm des Engels bereits erhoben, mich aus dem Bannkreis jedweder Hoffnung zu vertreiben. Und doch wäre ich gestorben, um sie glücklich zu machen. Führte das Ungeheuer seine Drohung aus, war der Tod unvermeidlich. Dann wieder überlegte ich, ob meine Heirat mein Schicksal beschleunigen werde. Mein Untergang konnte in der Tat ein paar Monate früher eintreten; doch wenn mein Peiniger argwöhnte, ich zögere sie, von seinen Drohungen eingeschüchtert, hinaus, würde er bestimmt andere und vielleicht noch schrecklichere Wege zur Rache finden. Er hatte gelobt, in meiner Hochzeitsnacht bei mir zu sein, jedoch hielt er sich angesichts dieser Drohung nicht für verpflichtet, in der Zwischenzeit Frieden zu geben. Denn als wollte er zeigen, daß sein Blutdurst noch nicht gestillt sei, hatte er unmittelbar nach dem Aussprechen seiner Drohung Clerval ermordet. Ich faßte daher den Entschluß, wenn die sofortige Vermählung mit meiner Kusine zu ihrem oder meines Vaters Glück beitragen würde, sollten die Pläne meines Feindes gegen mein Leben unsere Heirat um keine einzige Stunde hinauszögern.

In dieser Gemütsverfassung schrieb ich an Elisabeth. Mein Brief war gelassen und liebevoll. »Ich fürchte, mein geliebtes Mädchen«, schrieb ich, »uns bleibt auf Erden nur wenig Glück. Doch alles, was mir noch beschieden sein mag, sammelt sich in Dir. Vertreibe Deine müßigen Befürchtungen. Dir allein weihe ich mein Leben und mein Bestreben nach Zufriedenheit. Ein Geheimnis habe ich, Elisabeth, ein schreckliches. Wenn ich es Dir enthülle, wirst Du vor Grauen erstarren, und dann, weit entfernt davon, angesichts meiner Qual überrascht zu sein, wirst Du nur staunen, daß ich nach allem, was ich erduldet habe, noch am Leben bin. Ich will Dir diese Geschichte von Elend und Schrecken am Tag nach unserer Vermählung anvertrauen, denn, meine süße Kusine, zwischen uns muß vollkommenes Vertrauen herrschen. Bis dahin aber, ich beschwöre Dich, darfst Du es nicht erwähnen und auch nicht darauf anspielen. Darum bitte ich Dich in tiefem Ernst, und ich weiß, daß Du es mir gewährst.«

Etwa eine Woche, nachdem Elisabeths Brief eingetroffen war, kehrten wir nach Genf zurück. Das süße Mädchen hieß mich mit warmer Zuneigung willkommen. Doch ihr standen Tränen in den Augen, als sie meinen abgezehrten Körper und meine eingefallenen Wangen sah. Ich nahm auch bei ihr eine Veränderung wahr. Sie war schmaler geworden und hatte viel von jener himmlischen Munterkeit verloren, die mich früher bezaubert hatte. Doch ihre Sanftmut und ihr milder, mitfühlender Blick machte sie zu einer passenderen Gefährtin für einen Unglücklichen und Zerstörten wie mich.

Die Seelenruhe, die ich jetzt genoß, hielt nicht vor. Die Erinnerung brachte den Wahnsinn mit sich. Und wenn ich an all das Geschehene dachte, ergriff eine wahre Umnachtung Besitz von mir; manchmal war ich aufgebracht und brannte vor Zorn; manchmal war ich bedrückt und niedergeschlagen. Ich sprach nicht und sah niemanden an, sondern saß reglos da, verwirrt von der Menge der Unglücksschläge, die mich überwältigten.

Elisabeth allein besaß die Macht, mich aus diesen Anfällen zurückzuholen. Ihre sanfte Stimme beschwichtigte mich, wenn ich vor Wut tobte, und weckte in mir menschliche Gefühle, wenn ich in Betäubung versunken war. Sie weinte mit mir und um mich. Wenn mein Verstand zurückkehrte, machte sie mir Vorhaltungen und bemühte sich, mir Geduld und Ergebung einzuflößen. Ach! Es ist gut, wenn der Unglückliche sein Schicksal ergeben trägt, doch für den Schuldigen gibt es keinen Frieden. Die Qualen der Reue vergiften das Wohlgefühl, das man sonst manchmal darin findet, sich einem Übermaß an Kummer hinzugeben.

Bald nach meiner Ankunft kam mein Vater auf meine sofortige Vermählung mit Elisabeth zu sprechen. Ich blieb stumm.

»Liebst du also eine andere?«
»Keine auf der Welt. Ich liebe Elisabeth und freue mich maßlos auf unsere Heirat. Bestimme also den Tag. Und an diesem Tag will ich mich auf Leben und Tod dem Glück meiner Kusine weihen.«
»Mein lieber Viktor, sprich nicht so. Schweres Unglück hat uns betroffen, doch wollen wir uns nur um so fester an das klammern, was uns geblieben ist, und unsere Liebe für jene, die wir verloren haben, auf die noch Lebenden übertragen. Unser Kreis wird klein sein, aber eng verknüpft durch die Bande der Liebe und des gemeinsamen Unglücks. Und wenn die Zeit deine Verzweiflung gedämpft hat, werden neue und liebe Ziele der Fürsorge geboren, um jene zu ersetzen, die uns so grausam entrissen worden sind.«
So lauteten die Lehren meines Vaters. Doch für mich kehrte die Erinnerung an die Drohung zurück. Sie dürfen es auch nicht verwunderlich finden, daß ich den Unhold als geradezu unbesiegbar betrachtete, so allmächtig hatte er sich bei seinen bisherigen Bluttaten erwiesen. Und daß ich nach seinen Worten: »In deiner Hochzeitsnacht bin ich bei dir«, das angedrohte Schicksal als unausweichlich ansah. Doch der Tod war für mich kein Übel, wenn der Verlust Elisabeths auf der anderen Waagschale lag, deshalb stimmte ich mit zufriedener und sogar heiterer Miene meinem Vater zu, falls meine Kusine einverstanden sei, möge die Zeremonie in zehn Tagen stattfinden, und besiegelte damit, wie ich glaubte, mein Schicksal.
Großer Gott! Hätte ich auch nur einen Augenblick geahnt, was die höllische Absicht meines teuflischen Gegners sein mochte, hätte ich mich eher für immer selbst aus meinem Vaterland verbannt und wäre als Verlassener und Ausgestoßener auf der Erde umhergeirrt, als mich mit dieser verhängnisvollen Heirat einverstanden zu erklären. Doch als wäre es mit magischen Kräften begabt, hatte das Ungeheuer mich seinen wahren Absichten gegenüber blind gemacht. Und als ich glaubte, ich hätte nur meinen eigenen Tod in die Wege geleitet, beschleunigte ich den eines weit teureren Opfers.
Als der für unsere Vermählung festgesetzte Zeitpunkt näher rückte, spürte ich, ob aus Feigheit oder einer prophetischen Ahnung heraus, wie mir das Herz immer schwerer wurde. Doch ich verbarg meine Gefühle hinter einer ausgelassenen Miene, die Lächeln und Freude im Antlitz meines Vaters hervorrief, doch das stets wachsame und schärfere Auge Elisabeths kaum zu täuschen vermochte. Sie blickte unserer Heirat mit fröhlicher Zufriedenheit entgegen, in die sich doch eine von den früheren Schicksalsschlägen geprägte leise Angst mischte, was jetzt als sicheres und greifbares Glück erscheine, könnte sich bald in einen luftigen Traum auflösen und keine Spur hinterlassen außer tiefer und immerwährender Trauer.
Die Vorbereitungen für das Ereignis waren in vollem Gange. Wir empfingen Gratulationsbesuche, und alle trugen eine strahlende Miene zur Schau. Ich verschloß, so gut ich konnte, in meinem Herzen die dort nagende Angst, und ging mit scheinbarem Eifer auf die Pläne meines Vaters ein, obwohl sie womöglich nur als Ausschmückung meiner Tragödie dienen würden. Dank der Bemühungen meines Vaters hatte die österreichische Regierung Elisabeth einen Teil ihres Erbes zurückgegeben. Ein kleiner Besitz am Ufer des Corner Sees war ihr Eigentum. Es war abgemacht, daß wir unmittelbar nach der Trauung zur Villa Lavenza abreisen und die ersten Tage unseres Glücks an dem schönen See verbringen würden, in dessen Nähe sie stand.
Inzwischen traf ich alle Vorkehrungen zu meiner Verteidigung, falls der Unhold mich offen angreifen sollte. Ich trug immer Pistolen und Dolch bei mir und war ständig auf der Hut vor möglichen Winkelzügen. Auf diese Weise gewann ich etwas mehr Seelenruhe. In der Tat, als die Zeit heranrückte, wirkte die Drohung mehr wie ein Blendwerk, das es nicht wert war, mich in meinem Frieden zu stören, während das Glück, das ich mir in der Ehe erhoffte, immer mehr an Gewißheit gewann, je näher der Tag der feierlichen Besiegelung kam, zumal ringsum alles ständig von dem Ereignis sprach, als könnte es keinerlei möglicher Zwischenfall mehr verhindern.
Elisabeth schien glücklich. Meine Gelassenheit trug wesentlich dazu bei, sie zu beruhigen. Doch an dem Tag, der meine Wünsche und mein Geschick erfüllen sollte, war sie schwermütig, und eine böse Vorahnung erfüllte sie. Vielleicht dachte sie auch an das furchtbare Geheimnis, das ich ihr am nächsten Tag zu enthüllen versprochen hatte. Mein Vater war mittlerweile überglücklich, und in der Geschäftigkeit der Vorbereitungen sah er in der Schwermut seiner Nichte nur die Befangenheit einer Braut.
Nachdem die Zeremonie vollzogen war, versammelte sich im Haus meines Vaters eine große Gesellschaft. Doch es war ausgemacht, daß Elisabeth und ich unsere Reise zu Wasser beginnen, die Nacht in Evian verbringen und am nächsten Tag weiterreisen sollten. Das Wetter war schön, der Wind günstig, alles lächelte unserem hochzeitlichen Aufbruch zu.
Das waren die letzten Augenblicke meines Lebens, in denen ich das Gefühl des Glücks genoß. Wir fuhren rasch dahin. Die Sonne brannte heiß, doch eine Art Baldachin schützte uns vor ihren Strahlen, während wir uns an der schönen Landschaft erfreuten, manchmal an dem einen Ufer des Sees, wo wir den Mont Salêve sahen, die freundlichen Hänge des Montalègre und in der Ferne, alle überragend, den schönen Mont Blanc und die Versammlung schneebedeckter Gipfel, die vergeblich ihm gleichzukommen bemüht waren. Manchmal fuhren wir am anderen Ufer entlang und sahen den mächtigen Jura, der seine dunkle Seite dem Ehrgeizigen entgegenstellte, der sein heimatliches Land verlassen wollte, und eine fast unüberwindliche Schranke gegen den Eindringling aufrichtete, der es etwa zu unterjochen gedachte.
Ich nahm Elisabeth bei der Hand: »Du bist bedrückt, Liebste. Ach! Wenn du wüßtest, was ich gelitten habe und was mir vielleicht noch zu ertragen bevorsteht, würdest du danach trachten, mich die Ruhe und die Freiheit von der Verzweiflung auskosten zu lassen, die mir zumindest an diesem einen Tag zu genießen erlaubt ist.«
»Gib dich doch dem Glück hin, mein lieber Viktor«, erwiderte Elisabeth, »ich hoffe, dich peinigt nichts, und glaube mir, auch wenn sich auf meinem Gesicht keine überschwengliche Freude abzeichnet, mein Herz ist zufrieden. Etwas flüstert mir zu, mich nicht zu sehr auf die Zukunft zu verlassen, die sich vor uns ausbreitet. Aber ich will nicht auf eine so unheimliche Stimme hören. Sieh doch, wie rasch wir vorankommen und wie die Wolken, die den Gipfel des Mont Blanc manchmal verhüllen und dann wieder freigeben, diese schöne Aussicht nur noch interessanter machen. Und sieh die unzähligen Fische, die im klaren Wasser schwimmen, wo wir jeden Kieselstein auf dem Grund erkennen können. Welch himmlischer Tag! Wie glücklich und heiter, die ganze Natur aussieht!«
Derart war Elisabeth bemüht, ihre und meine Gedanken von jeder Grübelei über betrübliche Dinge abzulenken. Doch ihre Stimmung war veränderlich; augenblicksweise leuchtete ihr das Glück aus den Augen, doch dauernd wich es der Zerstreutheit und Traumversunkenheit.
Die Sonne sank tiefer. Wir fuhren an der Drance vorbei und verfolgten ihren Weg durch die Schluchten der höheren und die Wäldchen der niedrigeren Berge. Hier rücken di Alpen näher an den See heran, und wir hielten auf das Amphitheater der Berge zu, das seine östliche Begrenzung bildet. Der Kirchturm von Evian leuchtete am Fuß der umgebenden Wälder und der Kette von Bergen über Bergen, die darüber aufragen.
Der Wind, der uns bisher mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorwärtsgetragen hatte, verebbte bei Sonnenuntergang zu einer schwachen Brise. Die milde Luft kräuselte leise das Wasser und rauschte sacht in den Bäumen, als wir uns dem Ufer näherten, woher sie einen berauschenden Duft von Blüten und Heu herüberwehte. Als wir landeten, sank die Sonne unter den Horizont. Kaum hatte ich das Ufer betreten, fühlte ich, wie jene Sorgen und Ängste wieder auflebten, die mich bald umklammern und für immer an mir haften sollten.