Nachwort

Die Geschichte von Frankenstein, dem modernen Prometheus, und seinem Geschöpf, die den zeitgenössischen Lesern trotz Abhärtung durch eine bereits fünfzigjährige Tradition des »gotischen« Schauerromans den Atem stocken und das Blut in den Adern g6rinnen ließ und selbst abgebrühten Kritikern, wie der Rezensent von Blackwood’s Edinburgh Magazine bekannte, ein wenig an den Nerven zerrte; diese Geschichte, die in mehr oder weniger weit vom Original entfernten Adaptionen nun seit Jahrzehnten schon zu den ständigen Exponaten im Gruselkabinett des modernen Horrorfilms gehört und in der Beliebtheit bei Regisseuren und Produzenten vielleicht nur von Bram Stokers Dracula übertroffen wird – sie ist das Werk einer jungen Frau von neunzehn Jahren, zu deren madonnengleicher Erscheinung mit den zarten Linien des Gesichts und den großen braunen Augen unter einer freien, von blondem Haar gerahmten Stirn dieses Produkt ihrer Phantasie in ebenso schroffen, durchaus rätselvollem Gegensatz zu stehen schien wie zu ihrem heiter-klaren Gemüt und der ruhigen, fast kühlen, doch zutiefst weiblichen Wesensart.

Mary Shelley wurde am 30. August 1797 in London als Tochter zweier literarischer Berühmtheiten geboren. Ihr Vater war Wiliam Godwin (1756–1836), dessen sozialkritisches Werk Inquiry Concerning Political Justice (Untersuchung über die politische Gerechtigkeit, 1793) zum Evangelium des radikalen Flügels der Bewegung zur Reform des englischen Parlaments wurde und der einen bedeutenden Einfluß auf die englische literarische Romantik ausübte. Ihre Mutter, Mary Wollstonecraft (1759–1797), die nur wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter starb, gehörte mit A Vindication of the Rights of Women (Verteidigung der Rechte der Frau, 1792) zu den ersten großen Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung der Frau.

Mary Godwin wuchs in einer Atmosphäre intensiven geistigen Lebens auf, in der sich die großen ideengeschichtlichen Bewegungen von Aufklärung und Romantik trafen und auf mannigfache Weise ineinander verschlangen. In dem Kreis um ihren Vater lernte sie alles kennen, was in der Reformbewegung und im literarischen Leben der Zeit Rang und Namen hatte, darunter Jeremy Bentham und Samuel Taylor Coleridge, welch letzterer bei einer Gelegenheit seine berühmte Ballade vom Ancient Mariner (Der alte Seefahrer, 1797), eines der bedeutendsten und charakteristischsten Werke der romantischen Dichtung, das tiefe Spuren im Frankenstein hinterlassen hat, in der Familie Godwin selbst vortrug. Die junge Frau von siebzehn Jahren, die sich im Juli 1814 von Percy Bysshe Shelley (1792 bis 1822), einem der großen Vertreter der englischen Romantik, der schon 1812 die Freundschaft Wiliam Godwins gesucht und gefunden hatte, entführen ließ und mit ihm zu jener ersten romantischen Reise nach dem Kontinent aufbrach, die nach wenigen Wochen aus Geldmangel abgebrochen werden mußte, war bereits hochgebildet, literarisch vielseitig interessiert und fest entschlossen, schriftstellerisch tätig zu sein.

Das Leben mit dem bereits seit 1811 unglücklich mit Harriet Westbrook verheirateten Shelley war alles andere als bürgerlich-konventionell, stets ruhelos, auf Grund von Shelleys extrem selbstloser Hilfsbereitschaft von endlosen finanziellen Sorgen belastet und von großem persönlichem Leid überschattet. Im Februar 1815 stirbt ihr erstes Kind kurz nach der Geburt. Im Januar 1816 wird William Shelley geboren, und wenige Monate später folgt die zweite Reise auf das Festland. Während des Aufenthaltes am Genfer See vom Mai bis August 1816 finden in Byrons Villa Diodati jene Gespräche statt, die zur Idee des Frankenstein und zum ersten Entwurf der Geschichte führen. Mary Shelley beendete den Roman im Mai 1817, und nachdem ihn mehrere Verleger, darunter der bekannte Murray, abgelehnt hatten, wurde er im März 1818 veröffentlicht. In die Zeit zwischen der Rückkehr aus der Schweiz und diesem März 1818, als die Shelleys erneut England verließen und nach Italien gingen, fallen die Selbstmorde von Marys Stiefschwester Fanny Imlay und von Harriet Westbrook, die Heirat mit Shelley am 30. Dezember 1816 und die Geburt einer Tochter Clara im September 1817.

Während eines unruhigen Wanderlebens in Italien, dessen Hauptstationen Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Pisa sind, sterben die beiden Kinder, zunächst die Tochter Clara im September 1818, dann William im Juni 1819. Hatte schon der Tod Claras ihre seelische Kraft erschüttert, so war der Verlust des dreijährigen William ein Schlag, der sie in tiefe Verzweiflung stürzte und zu Depressionen führte, welche die vollkommene Kameradschaft und tiefe Liebe zwischen ihr und Shelley harten Belastungen aussetzte. Drei Jahre später, im Juli 1822, ertrank Shelley bei einer Segelfahrt im Golf von Genua, während sie selbst an den Folgen einer lebensgefährlichen Fehlgeburt litt.

Mary Shelley war noch nicht 26 Jahre alt, als sie im Juli 1823 nach England zurückkehrte. Von ihrer Familie war ihr nur ein Kind geblieben, der im November 1819 geborene Percy Florence, welcher 1844 nach dem Tode von Shelleys Vater, Sir Timothy, den Adelstitel und die Besitzungen der Shelleys erbte. Mary Shelley heiratete nicht wieder. Sie lebte zwanzig Jahre lang von ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und einer kargen Rente. Am 1. Februar 1851 starb sie.

Ihre zwischen 1823 und 1837 erschienenen Romane sind heute sicher zu Recht vergessen; lebendig geblieben ist ihr Name vor allem dadurch, daß sie die Frau des großen romantischen Dichters war, die sich um die Bewahrung und Pflege seines Werkes als Herausgeberin verdient gemacht hat – und eben durch jenes Buch, dessen Titel über den angelsächsischen Bereich hinaus zu einem kulturgeschichtlichen Begriff geworden ist.

Mit Frankenstein war Mary Shelley schon zur Zeit ihrer Rückkehr aus Italien zu eigenständigem literarischem Ruhm gelangt, den sie in einem Brief an Leigh Hunt vom 9. September 1823 selbst registriert: »Aber siehe da! Ich war berühmt. Frankenstein hatte ungeheuren Erfolg als Schauspiel und wurde im ›English Opera House‹ gerade zum 23. Mal gegeben.« Sie berichtet auch von der »atemlosen Spannung«, mit der das Publikum der Aufführung folgte, eine Spannung, für deren Aufrechterhaltung bis weit in unser Jahrhundert hinein die Theater- und Filmleute die Erfindung immer neuer Versionen der Geschichte, vor allem ihres Ausgangs, für notwendig erachtet haben. Elisabeth Nitchie schreibt in ihrer Biographie aus dem Jahre 1953: »Das Monster hatte anscheinend so viele Leben wie eine Katze, und jedes Leben verlangte ein anderes Ende. 1823, im ›English Opera House‹, ging es in einer Lawine zugrunde, im ›Coburg‹ in einer brennenden Kirche. 1826 wurde es in Paris und im ›West London Theatre‹ vom Blitzstrahl getroffen. Im ›Coburg‹ sprang es in den Krater des Ätna, im ›English Opera House‹ starb es in einem arktischen Sturm. Im 20. Jahrhundert beging es 1927 auf der Bühne Selbstmord, indem es von einer Klippe sprang, und 1933 wurde es erschossen. Auf der Leinwand wurde es im ersten Frankensteinfilm augenscheinlich in einer brennenden Mühle vernichtet, im zweiten durch eine Explosion – nur um wieder lebendig zu werden und wieder zugrunde zu gehen: in einem Tümpel kochenden Schwefels, und zum Schluß… kam es als Gespenst zurück.«

Der Frankenstein würde demnach eindeutig zur Tradition der »gotischen« Schreckens- und Schauerromane gehören, die mit Horace Walpoles Castle of Otranto (1765) einsetzte und über Clara Reeve (The Old English Baron, 1777), Mrs. An Radcliffe (The Mysteries of Udolpho, 1794) und dem berühmtberüchtigten »Monk« (Matthew Gregory) Lewis (The Monk, 1795), der einige Tage vor dem denkwürdigen Gespräch im August 1816 in der Villa Diodati zu Gast war, bis, zu Charles Robert Maturin (Melmoth the Wanderer, 1820) reicht; er wäre also Teil jener weitgehend trivialliterarischen Woge des Übernatürlichen, Grauenvoll-Gräßlichen und AbgründigVerbrecherischen, die, von England kommend, sich über den Kontinent ergoß, besonders Deutschland widerstandslos überspülte und von dort als »German Horror« nach den britischen Inseln zurückflutete.

In merkwürdigem und scharfem Widerspruch zu einer solchen Auffassung, die Mary Shelley im Jahre 1831 selbst zu teilen scheint, steht das 1817 von Shelley verfaßte und zweifellos von seiner Frau gebilligte Vorwort, das die Respektierung der Wahrheit der elementaren Gesetze der menschlichen Natur und die Vermeidung der entnervenden Wirkungen der zeitgenössischen Romane ins Zentrum der künstlerischen Absicht rückt. Gewiß, Frankenstein ist nicht nur von den Umständen her, unter denen die Idee geboren wurde, mit der schauerromantischen Tradition des »gotischen« Romans verknüpft. Er ist ihr in manchen Details und Handlungszügen, vor allem aber in atmosphärischer Hinsicht weitgehend verpflichtet. Jener entsetzliche Alptraum Frankensteins in der Nacht der Schöpfung, in dem sich in seinen Armen und unter seinem Kuß die Gestalt Elisabeths in den verwesenden Körper seiner Mutter verwandelt und er in den Falten des Leichentuches die Würmer kriechen sieht, könnte durchaus dem Kult des morbiden Interesses an Verfall und Verwesung bei »Monk« Lewis entstammen und in seinen Klostergrüften geträumt worden sein. Von der zentralen Idee und ihrer Durchführung her gesehen aber gehört der Roman ebensowenig in diese Tradition wie William Godwins Caleh Williams (1794), der Mary Shelley offensichtlich als Muster gedient und dessen Schluß sie mit dem uns heute nur schwer verständlichen Reuebekenntnis des Monsters über dem Leichnam Frankenstein getreulich und zum Schaden einer künstlerisch überzeugenden Lösung des Konflikts kopiert hat. Von dieser Idee ist in den meisten Bearbeitungen so gut wie nichts übriggeblieben, in manchen wurde sie auch direkt ins Gegenteil verkehrt. Man denke nur an die erste Verfilmung mit Boris Karloff aus dem Jahre 1931, in der dem Monster das Gehirn eines hingerichteten Verbrechers eingepflanzt wird!

Denn das Monster ist eben nicht von vornherein und ursprünglich böse, es hat keine angeborene Veranlagung oder Neigung zum Verbrechen, zum asozialen Selbstausschluß aus der Gemeinschaft. Es verkörpert das rousseauistische, in der englischen Romantik so überaus lebendige Bekenntnis, daß der Mensch von Natur gut sei, und es ist eine späte Variante des Edlen Wilden, jener Lieblingsvorstellung einer großen Strömung in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die in die progressiv-revolutionäre, ihrem Wesen nach antibürgerliche Vorstellungswelt der romantischen Dichter mündet. Das Monster ist nach zwei Jahren der geistig-moralischen Bildung bei den De Laceys ein Muster an Tugend, gütig, warmherzig, von selbstloser Hilfsbereitschaft, ein Wesen, dessen Seele vor Liebe und Menschlichkeit glüht und sich mit Ekel und Abscheu von den Lastern und Verbrechen dieser verderbten Welt abwendet. Dieser Mensch wird böse, weil man ihm als sozialem Wesen die Erfüllung seines unabdingbaren Lebens- und Glücksanspruchs in der Gemeinschaft verweigert und er damit zu grenzenlosem Unglück verurteilt wird. Die Maßlosigkeit seiner Rache entspricht der Maßlosigkeit des ihm zugefügten Unrechts. Das Monster ist das Opfer, das Unglück seines Schöpfers ist die selbstverschuldete Konsequenz seines wie auch immer motivierten unmenschlichen Verhaltens gegenüber dem Geschöpf, für das er die volle Verantwortung trägt.

Auf der Suche nach einem Schlüssel für das Verständnis des tödlichen Konflikts zwischen Frankenstein und seinem Geschöpf werden wir also an die aufklärerische Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts verwiesen, in deren Zentrum ein Gebot steht, das den berühmten Ausgleich zwischen Selbstliebe und Nächsten- bzw. Menschenliebe in der bürgerlichen Moralität zum Ausdruck bringt und das die Engländer sehr kurz in der Formel Do as you would be done by fassen könnten. Kein anderer als Percy Bysshe Shelley war es, der den eigentlichen moralisch-didaktischen Kern des Buches bloßgelegt hat. »Die Verbrechen und die Bösartigkeit des einsamen Wesens«, so schrieb er in seiner erst 1832 veröffentlichten Rezension, »obgleich in der Tat mörderisch und furchtbar, sind nicht die Furcht einer unerklärlichen Neigung zum Bösen, sondern entspringen unvermeidlich aus gewissen Ursachen, die völlig ausreichen, um diese Wirkungen hervorzubringen. Sie sind sozusagen Kinder der Notwendigkeit und der menschlichen Natur. Darin besteht die direkte Moral des Buches, und es ist vielleicht der wichtigste und am universellsten anwendbare Moralgrundsatz, der durch das Beispiel zur Geltung gebracht werden kann. Behandle einen Menschen schlecht, und er wird böse werden. Vergelte Zuneigung mit Verachtung; mache, aus welchem Grunde auch immer, ein Individuum zum Auswurf seiner Gattung; trenne es, ein soziales Wesen, von der Gesellschaft – und du erlegst ihm den unwiderstehlichen Zwang zur Bösartigkeit und zur Selbstsucht auf. Und so ist es nur allzuoft in der Gesellschaft: Die am besten geeignet sind, ihre Wohltäter und ihre Zierde zu sein, werden durch irgendeinen Zufall mit Verachtung gebrandmarkt und durch Geringschätzung und Einsamkeit des Herzens in eine Geißel und einen Fluch verwandelt.«

Diese aufklärerische moralphilosophische Idee aber ist auf romantische Weise in den typischen Vorstellungen und mit den charakteristischen Mitteln der romantischen Epoche geistig-literarischer Wirklichkeitsaneignung realisiert worden. Romantisch ist die Steigerung ins Nichtalltägliche, Außergewöhnliche, Unerhörte und Unheimlich-Groteske; der Aufbau einer Vorstellungswelt, in der Gefühle und Leidenschaften mit elementarer, oft tödlicher Gewalt sich austoben und aufeinanderprallen. Romantisch ist die Gestaltung qualvoller seelischer Zerrissenheit, des Erlebnisses grenzenloser Einsamkeit und Verlassenheit, mit der die dichterische Phantasie ihr Urteil über die bürgerliche gesellschaftliche Form der Vereinzelung des Menschen fällt: Frankenstein und das Monster – der wiederholte Vergleich mit Satan, dem gefallenen und verstoßenen Engel in Miltons Verlorenem Paradies, ist bezeichnend – stehen in einer Reihe mit den ruhelosen Wanderern, Ausgestoßenen, Eremiten und einsamen Rebellen, welche das Werk Coleridges, Wordsworths, Byrons und Shelleys bevölkern. Romantisch ist der bewußte Verzicht auf jede äußere Lebenswahrscheinlichkeit und »Treue des Details«, soweit die Zwänge der epischen Gattung dies zulassen, die unrealistische Verfremdung und Überhöhung von Situationen, Handlungen und Charakteren ins Phantastisch-Symbolische, um gerade dadurch eine Authentizität und Wirklichkeitsnähe zu erreichen, die realistischen Darstellungsweisen in dieser Zeit verwehrt blieb. Diese romantische Methode ist ein Reflex der großen Kollisionen entfesselter Gesellschaftskräfte in einer Zeit der nationalen und gesamteuropäischen politisch-sozialen Erschütterungen, der Kriege und Revolutionen. Der Rezensent des Edinburgh Magazine and Literary Miscellany schrieb daher sehr zu Recht: »Nie wurde eine wildere Geschichte ersonnen; doch gleich den meisten erfundenen Geschichten unserer Epoche haftet ihr der Schein der Wirklichkeit an… Die wirklichen Vorgänge in der Welt sind in unseren Tagen ja auch von einer solch phantastischen und ungeheuerlichen Art, die Szenenwechsel in unserem gewaltigen Drama so schnell und vielfältig gewesen, daß selbst Shakespeare in den kühnsten Flügen seiner Phantasie von den Absonderlichkeiten des wirklichen Lebens ganz und gar übertroffen worden ist.«

Zweifellos hat im Frankenstein die Entfaltung der Klassengegensätze, in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, die zu dieser Zeit im Gefolge der industriellen Revolution einen schnellen Reifeprozeß durchmachte, ein Echo gefunden. In den Anklagereden des Monsters hallt unüberhörbar der Schrei der Verzweiflung und Empörung der hungernden und geknechteten, von den Segnungen der Zivilisation und jeglicher Entwicklung ihrer Individualität ausgeschlossenen Massen des Volkes. Dadurch wird freilich weder die Geschichte zum sozial-utopischen Tendenzroman noch das Monster zum Symbol des modernen Proletariats.

Frankenstein ist kein sozial-utopischer, wohl aber ein wissenschaftlich-utopischer Roman. Mary Shelleys Buch ist die erste der modernen Scientific Romances, heute Science-fiction genannt, und steht damit am Beginn der Entwicklung eines Genres, das Anfang unseres Jahrhunderts im Werk von H. G. Wells kulminierte und in den letzten Jahrzehnten zu einem Strom ohne Ufer geworden ist.

Das 18. Jahrhundert, »dieses aufgeklärte und wissenschaftliche Zeitalter«, erlebte einen gewaltigen Sprung in der Entwicklung der Naturwissenschaften und sah mit der konsequenten Hinwendung zur exakten und experimentellen Forschung und den daraus resultierenden spektakulären Fortschritten in der Physik, Chemie, Biologie und in anderen Disziplinen das Ende der mystisch-spekulativen Naturphilosophie, für die im Frankenstein die Namen Albertus Magnus, Cornelius Agrippa und Paracelsus stehen. Im Kreis um Shelley, während seiner Zeit in Eton und Oxford selbst ein begeisterter Experimentator, der kein Risiko scheute, dürften diese Fortschritte nicht selten leidenschaftlich diskutiert worden sein. Erasmus Darwin, von dem ja Shelley zufolge der Gedanke von der Möglichkeit der Belebung toten organischen Stoffes herrührt, der Verfasser der großen naturwissenschaftlichen Lehrgedichte The Botanic Garden und The Temple of Nature, wurde nicht nur von Shelley, sondern auch von anderen großen Romantikern hochverehrt, und sie alle schulden ihm viele Ideen.

Der makabre Akt der Schöpfung nach Frankensteins Entdeckung des Geheimnisses der Zeugung und des Lebens, über die uns die Verfasserin mit dem plausibelsten aller Gründe im unklaren läßt, hat jedenfalls die wichtigsten Errungenschaften der Naturwissenschaften vor allem im letzten Drittel des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die freilich meist nur vage angedeutet werden, zur Voraussetzung: die Fortschritte in der Erforschung des Blutkreislaufs ebenso wie die Isolierung des Sauerstoffs in den Experimenten Lavoisiers, mit denen die alte Phlogistontheorie zu Grabe getragen und die moderne Chemie geboren wird; die Entwicklungen in der Physiologie, der pathologischen Anatomie und natürlich auch in der Chirurgie, die am Ende des Jahrhunderts eine unerwartete Blüte erfährt und zu einer respektablen wissenschaftlichen Höhe reift, und schließlich die im gegebenen Zusammenhang bedeutendste von allen – die Entdeckung des elektrischen Stroms, der Zusammenhänge zwischen Elektrizität und Magnetismus, Stoff und chemischer Reaktion in den Experimenten vor allem Galvanis und Voltas: Der moderne Prometheus bittet nicht die Göttin der Weisheit Athene, seinem kunstvoll aus Leichenteilen gefertigten Körper den göttlichen Atem einzuhauchen, sondern erweckt ihn zum Leben, indem er durch die toten Glieder und Organe elektrischen Strom fließen läßt.

Der heutige Leser, der durch die raffinierte, auf gründlicher Sachkenntnis beruhende phantastische Extrapolation wissenschaftlich-technischer Sachverhalte in den bedeutenden Werken der Science-fiction verwöhnt ist, mag die Idee und ihre Durchführung für allzu krude halten und sie nachsichtig belächeln. Vielleicht aber beschleicht ihn angesichts der sich gegenwärtig vollziehenden Revolution in der Molekularbiologie, der Entschlüsselung des genetischen Codes und der sich abzeichnenden Möglichkeit der massenhaften Genmanipulation zugleich ein Gefühl beklemmender Aktualität, wenn er von Frankensteins Vision liest: »Das Leben wie der Tod, sie scheinen mir nur noch eingebildete Schranken zu sein, welche ich als erster durchbrechen würde, um danach wahre Kaskaden von Licht über unsere Welt der Finsternis auszugießen! Eine neue Rasse würde mich als ihren Schöpfer, als den Ursprung ihres Daseins segnen. Zahllose glückliche und vortreffliche Geschöpfe würden mir ihr Leben verdanken.« Das unselige, unglückliche Geschöpf, dem er das Leben gibt, ist ein Etwas, »wie es nicht einmal ein Dante hätte aussinnen können«. Haben heute nicht schon ernsthafte Wissenschaftler, im Gegensatz zu Frankenstein natürlich auf moderne nüchternpragmatische Weise, die Frage der genetischen Manipulation des Menschen zu einem »Menschen nach Maß« diskutiert?

Und so ist es das Problem des Verhältnisses von wissenschaftlicher Erkenntnis und Moral, das uns Heutige bei der Lektüre des Frankenstein besonders berühren könnte, ja berühren sollte. Den Aufruf des gescheiterten Frankenstein an die Wissenschaft zu antifaustischer, spießerhafter Selbstbeschränkung dürfen wir zurückweisen, aber nicht die Warnung vor der Befriedigung menschlichen Erkenntnisdranges ohne Rücksicht auf die Folgen, die Warnung davor, den unwiderstehlichen Verführungen der Wissenschaft auf selbstsüchtigamoralische und daher asoziale Weise nachzugeben.

Manfred Wojcik