6

Noch ein Drow mit Zwerg

Bruenor blieb stehen und starrte den Brunnen an. In seiner Hand lag ein Stein von der Brunneneinfassung.

Drizzt wusste nicht, worauf er hinauswollte. Würde Bruenor den Stein vor Wut gegen die nächste Wand schleudern? Oder würde er darauf bestehen, dass sie einfach weitergehen sollten, tiefer in den instabilen unterirdischen Komplex, der weniger alt war, als sie zunächst geglaubt hatten …

Seufzend ließ der Zwerg den Stein fallen, wobei der Buchstabe darauf – ein Buchstabe aus dem Menschenalphabet – gut zu sehen war. Der Brunnen trug die Unterschrift seines menschlichen Erbauers und das Zeichen von dessen Barbarenclan. Bruenor hatte den Brunnen entdeckt, bevor das Erdbeben sie vertrieben hatte. Um diesen Ort wiederzufinden, hatten sie tagelang Schutt weggeräumt.

»Tja, Elf«, sagte der Zwerg, »wir haben ja noch hundert andere Karten.«

Mit den Händen auf den Hüften drehte er sich zu Drizzt und Gwen um, doch auf seinem bärtigen Gesicht stand kein Ärger und nur wenig Enttäuschung geschrieben.

»Was ist?«, fragte Bruenor angesichts Drizzts offensichtlicher Überraschung.

»Du bist so geduldig.«

Bruenor zog die Schultern hoch und schnaubte. »Weißt du noch, wie wir nach Mithril-Halle gesucht haben? Monatelang unterwegs, durch Langsattel, das Trollmoor, Silbrigmond und so weiter?«

»Natürlich.«

»Hast du je bessere Monate erlebt, Elf?«

Diesmal musste Drizzt lächeln und gab seinem Freund mit einem Nicken recht.

»Eine Million Mal hast du mir erzählt, dass es um den Weg geht, nicht um das Ziel«, sagte Bruenor. »Vielleicht glaub ich dir ja endlich. Also, los«, fügte er hinzu, ehe er mit einem misstrauischen Blick auf den frechen Panther zwischen den beiden hindurchging. »Ein paar Wege schaffen meine alten Beine noch.«

Außerhalb der Höhle erwartete sie ein strahlend blauer Himmel. Es war Spätsommer, kurz vor dem Herbst, so dass der kühle Wind in letzter Zeit recht angenehm gewesen war. Ihnen blieben noch etwa drei Monate für weitere Expeditionen, ehe sie in einer Stadt überwintern mussten, zum Beispiel in Letzthafen. Andererseits hatte Drizzt auch schon vorgeschlagen, nach Langsattel zu ziehen, um den Harpells einen Besuch abzustatten. Die Zauberersippe der Harpells war vor sechzig Jahren durch die Zauberpest dezimiert worden, doch inzwischen schlossen sich ihre Reihen wieder, und sie bauten ihr Haus auf dem Hügel und die darunterliegende Stadt wieder auf.

Aber diese Entscheidung musste nicht heute getroffen werden. Zunächst einmal zogen die drei sich in ihr Lager zurück, wo Bruenor einen Stapel Schriftrollen, Pergament, Häute und Schreibtafeln aus seinem Gepäck zog – lauter Karten für die vielen bekannten Höhlen im Bereich der nördlichen Schwertküste. Außerdem kamen etliche alte Münzen aus der Zeit von Delzoun zum Vorschein, ein uralter Hammerkopf und ein paar andere, sehr alte und kunstvoll gestaltete Gegenstände. Das alles war im ganzen Norden zusammengesammelt, stammte von Barbarenstämmen und aus kleinen Dörfern, die Münzen sogar aus Luskan. Natürlich war das kein Beweis. Luskans Anfänge als Hafenstadt reichten in die Zeit zurück, in der die meisten Schriftgelehrten der Zwerge in Gauntlgrym ansiedelten, so dass durchaus zu erwarten wäre, dass in den vielen Schatztruhen der Stadt noch ein paar Münzen aus Delzoun lagerten.

Für Bruenor jedoch waren sie ein Ansporn und konnten seine müden Schultern straffen, so dass Drizzt nicht versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Zumindest nicht, wenn die Reise dadurch etwas interessanter wurde.

Bruenor zog eine Schriftrolle nach der anderen aus ihrem Futteral und las die Notizen, die er an die Ränder gekritzelt hatte. Schließlich wählte er zwei aus und legte sie beiseite, bevor er den Rest wieder wegpackte. Aus dem Stoß Pergament zog er eine weitere vielversprechende Karte, ehe die übrigen wieder ins Gepäck wanderten.

»Die drei sind am nächsten«, erklärte der Zwerg.

Zu Drizzts Überraschung schnallte Bruenor daraufhin seinen Reisesack zu, warf ihn über die Schulter, sammelte seine restlichen Habseligkeiten ein und schickte sich zum Aufbruch an.

»Was ist?«, fragte der Zwerg, als Drizzt nicht sofort reagierte. »Es ist noch ein paar Stunden hell, Elf. Wir wollen doch keine Zeit verschwenden!«

Lachend trat Erzgo Alegni hinter einem Baum hervor auf den Pfad durch den Wald, um zwei verdutzten Tieflingen den Weg zu versperren. Der eine hatte nach hinten und unten gerundete Hörner, die denen von Alegni ähnlich sahen, der andere hatte nur zwei Knubbel auf der Stirn. Beide trugen weit offene Lederwesten, die den Blick auf krude Brandzeichen gestatteten, mehrere Linien übereinander, welche die Symbole ihres Gottes und eines anderen teuflischen Herrn kombinierten. In seiner Zeit im Niewinterwald hatte Alegni dieses Symbol gut kennen gelernt.

Außerdem trugen die beiden rote Zepter bei sich, deren Facetten wie Glas aussahen, in Wirklichkeit aber aus hartem Metall bestanden. Die Zepter waren drei Fuß lang und konnten als Keule, Kurzstab oder Speer eingesetzt werden, denn an einem Ende war eine hässliche Spitze befestigt.

»Bruder …«, sagte der Mann, den das plötzliche Auftauchen des größeren Tieflings erschreckt hatte.

»Nein – Shadovar!«, stellte die Frau schnell richtig, während sie bereits in Verteidigungshaltung ging.

Sie verlagerte das Gewicht nach hinten auf das rechte Bein, streckte den linken Arm so vor, dass die Handfläche Alegni zugewandt war, zog die Waffe dicht vor die rechte Brust und zeigte damit auf den Shadovar wie mit einem Schwert oder Speer.

Der Mann reagierte ähnlich, ging dabei aber breitbeinig in die Hocke und hielt sein Zepter wie eine schlagbereite Keule über die rechte Schulter.

Erzgo Alegni lächelte die beiden an, ohne sein prächtiges rotes Schwert zu ziehen, das griffbereit an seiner linken Hüfte hing.

»Ashmadai, nehme ich an«, sagte er. So nannten sich die Anhänger des Asmodeus, die neuerdings in den Niewinterwald eindrangen. Er hatte erst kürzlich von diesem Kult gehört.

»Was du auch sein solltest, teuflischer Bruder«, sagte die Frau. Ihre Augen, zwei massive Silberkugeln, weiteten sich vor lustvoller Erregung.

»Teuflischer Bruder, der sich dem Schatten verschrieben hat«, fügte der Mann hinzu, »und dem Reich Nesseril der Göttin Shar.«

»Wer schickt euch?«, fragte Alegni. »Wessen Hand lenkt diesen Kult eifernder Bastarde?«

»Jedenfalls kein Freund von Nesseril!«, fauchte die Frau. Sie schnellte unvermittelt vor und stieß mit ihrem Speer nach Alegnis breiter Brust.

Dieser aber kam ihr zuvor, indem er sein Schwert zog und nach rechts schwang. Keiner seiner Gegner hatte damit gerechnet, dass die Klinge dabei eine undurchsichtige Aschespur hinterlassen würde.

Der Speer der Frau durchstieß den Ascheschleier, doch hinter der Wand war Alegni bereits dem Schwung seines Schwerts gefolgt und nach rechts ausgewichen.

Noch während die Frau ihre Waffe zurückzog, sagte er abseits des Weges: »Hier.« Und kurz bevor der Mann mit seiner Keule vorspringen konnte, drehten ihm beide die gehörnten Köpfe zu und wollten sich ihm sogar zuwenden, als plötzlich die Aschewand explodierte. Eine schlanke Gestalt sprang mit einem Überschlag zwischen den zwei Ashmadai hindurch, denen keine Zeit blieb, diese neue Gefahr anzugreifen. Er landete hinter ihnen, hatte sich aber in der Luft so gedreht, dass er mit dem Gesicht zu seinen Gegnern stand.

»Blas das Horn!«, rief der Mann, der herumfuhr, um sich dem Feind zu stellen, doch da taumelte die Frau auch schon zur Seite. Sie schlug die freie Hand an den Hals, wo der Dolch des zweiten Gegners zugestochen hatte. Ihre Silberaugen wurden noch größer, was sowohl dem Schreck über diesen präzisen Angriff als auch der Angst vor einer tödlichen Verletzung geschuldet war.

»Makarielle!«, schrie ihr Begleiter. Mit weit ausholender Keule warf er sich auf den Messerstecher.

Der blasse Mensch wich dem ersten Schlag aus und duckte sich auch vor dem Rückhandschlag. Beim dritten Angriff sprang er auf die Waffe zu, auch wenn er dafür einen kurzen seitlichen Treffer in Brusthöhe hinnehmen musste. Die Keule blieb unter seiner Achsel hängen, und er warf sich mit solcher Wucht zur Seite, dass er seinem Gegner die Waffe aus der Hand riss.

Der entwaffnete Tiefling zischte und schickte sich an, mit Fäusten und Zähnen auf den Angreifer loszugehen.

Doch noch während er lossprang, hob Barrabas der Graue aus der Bewegung heraus den Arm mit dem Zepter und stieß mit voller Wucht zu. Er spürte, wie heftig er die Brust seines Gegners traf. Deshalb warf er sich nicht weiter nach rechts, sondern blieb stehen und zog das Zepter wieder vor sich, wobei er es mit beiden Händen am unteren Ende packte, sich nach links drehte und den zurückweichenden Tiefling erneut angriff.

Dieser konnte immerhin den Arm hochreißen, um den Schlag abzublocken, was ihm allerdings den Unterarm brach. Doch bevor er aufschreien konnte, wandte sich Barrabas nach der anderen Seite, als wolle er einen gewaltigen Aufwärtsschlag nach dem Kopf des Tieflings führen. Noch während der Tiefling auf diese Finte reagieren wollte, ging Barrabas tief in die Knie und trat stattdessen mit dem Fuß zu. Er traf den Tiefling mit lang ausgestrecktem Bein am Knie. Blitzschnell stieß Barrabas die Waffe aus seiner Hockstellung nach oben. Der Tiefling, der ohnehin aus dem Gleichgewicht geraten war, konnte nichts mehr dagegen tun, dass die Spitze ihn mit Wucht in den Unterleib trat.

»Gut gemacht«, gratulierte Alegni dem Messerkämpfer, während er neben die Frau trat. Sie kniete auf einem Bein, drückte beide Hände auf die Wunde an ihrem Hals und hatte ihre Waffe neben sich liegen. »Wird sie überleben?«

»Kein Gift«, versicherte Barrabas. »Keine tödliche Wunde.«

»Das klingt gut!«, sagte Alegni, während er zu dem benommenen Mann trat, der immer noch stand, auch wenn sein Gesicht vor Schmerz zur Grimasse verzerrt war. »Aber nicht für dich«, korrigierte sich der Shadovar und erschlug den armen Kerl mit einem einzigen, gewaltigen Schwerthieb.

»Ich brauche nur einen Gefangenen«, erklärte Alegni dem toten Ashmadai. Er trat zurück, packte die kniende Frau an ihren dichten schwarzen Haaren und riss sie so gewaltsam hoch, dass sie auf die Beine kam.

»Glaubst du, du hast Glück gehabt?«, fragte er sie und schob sein Gesicht so dicht vor das ihre, dass er ihr kalt in die tränennassen Augen starren konnte. »Nimm ihre Waffen und alles, was sich sonst noch lohnt«, wies er seinen Lakaien an, ehe er weiterging. Die Frau verlor das Gleichgewicht, doch er schleifte sie an den Haaren hinter sich her.

Barrabas der Graue sah ihm nach, nahm aber vor allem die ungeheure Qual im Gesicht der Frau wahr. Gegen einen guten Kampf hatte er nie etwas einzuwenden. Es bereitete ihm auch keine Gewissensbisse, fanatische Anhänger eines teuflischen Gottes umzubringen. Schließlich hätte jeder von ihnen ihn ebenso gewissenlos bei einem ihrer Opferrituale ausgeweidet, wie Erzgo Alegnis Soldaten festgestellt hatten. Drei von ihnen waren im Wald vermisst gewesen, aber man hatte sie gefunden – mit aufgeschlitztem Bauch auf Steinplatten gebunden.

Dennoch litt Barrabas beim Anblick der Frau, weil er wusste, dass sie bald die ungezügelte Grausamkeit von Erzgo Alegni zu spüren bekommen würde.

Unverwüstlich.

Das war das Wort, das Drizzt am häufigsten in den Sinn kam, wenn er an Bruenor Heldenhammer dachte, zusammen mit seinem eigenen Spruch: »Wohlan denn.«

Drizzt stand im Schatten einer ausladenden Eiche an deren Stamm gelehnt und beobachtete geistesabwesend seinen Freund. Unterhalb des Hügels mit der Eiche saß Bruenor zwischen einem Dutzend Karten, die er auf einer Decke ausgebreitet hatte, auf einer kleinen Lichtung.

Bruenor hielt Drizzt seit Jahren auf Trab, was der Dunkelelf sehr wohl wusste. Nachdem alle Hoffnung, Catti-brie und Regis wiederzufinden, verflogen war und selbst die schönsten Erinnerungen an diese beiden und Wulfgar verblassten – denn auch der Barbar musste inzwischen tot oder aber hundertzwölf Jahre alt sein –, besänftigte nur Bruenors unumstößliche Überzeugung, dass der Weg vor ihnen sich lohnte und es noch etwas Großartiges zu entdecken galt, die Wut, die in dem Drow brodelte.

Die Wut und vieles andere – und nichts davon war gut.

Drizzt sah lange zu, wie der Zwerg eine Karte nach der anderen durchging und dabei gelegentlich Anmerkungen auf einer Karte oder in dem Büchlein eintrug, das seine Suche nach Gauntlgrym dokumentierte. Der Zwerg hatte Drizzt gestanden, dass dieses Buch zugleich für Bruenors Befürchtung stand, die alte Heimat der Zwerge von Delzoun niemals zu finden. Wenn er jedoch versagte, wollte er wenigstens seine Aufzeichnungen hinterlassen, damit der nächste Zwerg, der sich diese Aufgabe setzte, nicht wieder von vorn anfangen musste.

Dieses Vorgehen, das Eingeständnis, dass sein Vorhaben zumindest für Bruenor möglicherweise ergebnislos blieb, und die Entschlossenheit, diesen möglichen oder eher wahrscheinlichen Ausgang zu akzeptieren, zeigten Drizzt, wie ernst seinem Freund diese Sache war, wie lange sie auch dauern mochte, und als wie bescheiden Bruenor seinen Beitrag ansah.

Erst als Drizzt die geballte Faust vor sich hielt, wurde ihm klar, dass er ein Stück Baumrinde abgebrochen hatte. Er öffnete seine schwarzen Finger, starrte die Rinde an und warf sie schließlich auf den Boden. Dabei fuhren seine Hände reflexartig an die Griffe der beiden Krummsäbel an seinem Gürtel. Drizzt wandte sich von Bruenor ab, um das hügelige Land nach Rauch oder anderen Anzeichen für sonstige Bewohner wie Goblins, Orks oder Gnolle abzusuchen.

Es kam ihm seltsam vor, dass die Welt zwar düsterer geworden war, seine Kämpfe jedoch immer seltener wurden. Auf die Dauer war das inakzeptabel.

»Heute, Guen«, flüsterte er, obwohl der Panther auf seiner Astralebene weilte und er die Onyxstatue, mit der er seine Freundin rufen konnte, noch gar nicht in der Hand hielt. »Heute gehen wir auf die Jagd.«

Routinemäßig zog er Blaues Licht und Eisiger Tod heraus, die Krummsäbel, die er schon so lange bei sich trug, und begann mit einer Abfolge gut geübter Bewegungen, mit denen er Paraden, Konterangriffe und geschickte Riposten ausführte. Bald wurde sein Tempo schneller, und seine Bewegungen verlagerten sich von Abwehr und Reaktion auf aggressivere, radikalere Attacken.

Diese Übungsabfolgen kannte er praktisch schon sein ganzes Leben, denn er hatte sie bereits in Menzoberranzan, der Stadt im Unterreich, von seinem Vater Zaknafein gelernt, während seiner Ausbildung an der Schule für Kämpfer, Melee-Magthere. Die Abläufe hatten jeden Abschnitt seines Lebens begleitet und waren ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Sie waren das Maß seiner Disziplin, schärften seine Sinne und bestätigten seine Ziele.

Die einzelnen Schritte waren Drizzt so vertraut, dass er die subtilen inneren Veränderungen, denen er während des Übens unterlag, nicht einmal bemerkt hatte. In erster Linie ging es bei seinem Training natürlich um Muskelgedächtnis und Gleichgewicht, und das routinemäßige Abblocken, die Drehungen, die Stiche und Saltos dienten dazu, jeden Angriff seiner imaginären Gegner automatisch zu kontern.

Doch seit einigen Jahren stellte sich Drizzt diese Gegner viel lebhafter vor. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, dass er ursprünglich gelernt hatte, seine Gegner nur als ihre Waffen anzusehen. An diesen Grundsatz hatte er sich bis zur Zauberpest gehalten. Damals hatte er Blaues Licht senkrecht nach oben gezogen, um ein imaginäres Schwert zu blocken, und Eisiger Tod vor dem Körper nach unten gerissen, um gleichzeitig einen Speerstoß abzuwehren.

Seit jener schlimmen Zeit jedoch und insbesondere seit er mit Bruenor, Jessa, Pwent und Nanfoodle wieder aufgebrochen war, sah er in seiner Phantasie nicht nur Waffen vor sich, sondern das Gesicht eines Orks oder das Grinsen eines Ogers, die Augen eines Menschen, Drow, Elfen, Zwergs oder Halblings – eigentlich spielte es keine Rolle! Hauptsache, es gab einen Banditen oder ein Monster, das aufschreien würde, wenn Blaues Licht sein Herz traf, oder an seinem eigenen Blut erstickte, wenn Eisiger Tod ihm die Kehle aufschlitzte.

Mit aller Wut ging der Drow auf seine Dämonen los. Er schnellte vor und sprang ab, drehte sich dabei und kam so wieder auf, dass seine Beine mit den magischen Fesselbändern ihn sofort weiterschnellen ließen und seine Krummsäbel dabei nach vorne fuhren, um zu töten. Noch ein Vorstoß und ein weiterer Salto. Diesmal landete er kurz auf dem rechten Bein, um sich gleich darauf in einem halsbrecherischen Wirbel summender Klingen weiter nach rechts zu werfen.

Und wieder vor, nach oben, nach links, ein wütender Tornado, bis er seinen Gegner mit einem plötzlichen, brutalen Umgreifen von hinten aufspießen konnte.

Drizzt fühlte das zusätzliche Gewicht auf seiner Klinge, als er einen Ork aufspießte, der ihm im Geiste gefolgt war. Er konnte sich sogar das warme Blut vorstellen, das über seine Hand rann.

Er war so in seine Bewegung vertieft, dass er sich tatsächlich umdrehte, um seinen blutigen Säbel am Wams des gefallenen Gegners abzuwischen.

Er starrte Eisiger Tod an, der unbefleckt in seiner Hand glänzte, und bemerkte den Schweiß auf seinem Unterarm. Dann blickte er zu der Eiche zurück, die kaum noch zu sehen war.

Irgendwo tief im Herzen wusste Drizzt Do’Urden, dass er sein tägliches Training und jeden echten Kampf, der sich ihm anbot, einsetzte, um dem Schmerz über seinen Verlust auszuweichen. Er flüchtete sich in den Kampf, denn nur in diesen Augenblicken der brutalen Auseinandersetzung, ob echt oder gespielt, konnte er vergessen. Doch es war das Beste, alles tief in sich zu vergraben, wo sein Bewusstsein nicht daran rührte, tief unter der Überzeugung, dass er schließlich trainieren musste.

Deshalb redete er sich auch gern ein, dass all die vielen Kämpfe auf seinen Reisen in den letzten Jahren unvermeidlich gewesen waren.

»Du hast die zwei Ashmadai-Tieflinge im Handumdrehen erledigt«, gratulierte Erzgo Alegni seinem Handlanger an diesem Abend am Waldrand bei Niewinter.

»Sie waren überrascht und haben nur auf dich geachtet«, erwiderte Barrabas. »Sie hatten keine Ahnung, dass ich auch da war.«

»Kannst du das Kompliment nicht einfach akzeptieren?«, schimpfte Erzgo lachend.

Von dir? Barrabas sprach seinen Gedanken nicht aus, denn es hätte zweifellos verächtlich und sarkastisch geklungen. Dennoch sprach seine säuerliche Miene Bände.

»Ach, tu nicht so überrascht«, tadelte Alegni. »Glaubst du etwa, du wärst noch am Leben, wenn ich deine Künste nicht schätzen würde?«

Barrabas verzog nur den Mundwinkel und warf einen Blick auf die rote Klinge an Alegnis Hüfte.

»Du glaubst natürlich, ich will dich einfach nur quälen«, folgerte Alegni. »Nein, Freundchen. Ich will nicht abstreiten, dass ich mich sehr an deiner misslichen Lage ergötze, aber das allein wäre die Mühe nicht wert. Du bist am Leben, weil du einen Wert besitzt. Die Erzgo-Alegni-Brücke von Niewinter bezeugt diesen Wert ebenso wie deine Arbeit hier im Wald. Du bist ein fähiger Mann, und so jemand ist heutzutage schwer zu finden und noch schwerer zu beherrschen.« Er griff an sein Schwert und fügte hinzu: »Was bei dir zum Glück nicht so problematisch ist.«

»Wie schön, dass ich so nützlich bin«, sagte Barrabas. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Du dienst mir als Diplomat gegenüber Hugo Babris, als Krieger gegen die Ashmadai, als Mörder gegen die Agenten unserer Feinde und bei Bedarf auch noch als Spion.«

Barrabas stützte beide Hände in die Hüften und wartete. Gleich würde er einen neuen Auftrag erhalten.

»Das Auftauchen dieser Ashmadai-Anhänger ist kein Zufall«, sagte Alegni prompt. »Angeblich treiben sich Agenten aus Tay im Norden herum, wahrscheinlich in Luskan.«

Bei der Erwähnung der Stadt der Segel zog Barrabas den Kopf ein, denn dort wollte er sich ganz gewiss nicht blicken lassen.

»Ich will wissen, wer sie sind, was sie dort wollen und wie sie unsere Arbeit hier beeinträchtigen könnten«, endete Alegni.

»Luskan …«, sagte der Mörder langsam, als ob die Wiederholung des Namens Alegni daran erinnern könnte, dass es keine besonders gute Idee war, Barrabas den Grauen dorthin zu schicken.

»Du bist doch ein Meister der Verstohlenheit?«

»In Luskan wimmelt es von Leuten, die sich über die Verstohlenheit von Menschen oder auch Shadovar lustig machen. So ist es doch, oder?«

»In letzter Zeit hat man nur noch wenige Drow dort gesichtet.«

»Wenige?«, wiederholte Barrabas, als ob dieser Umstand keine Rolle spielte.

»Das Risiko würde ich eingehen.«

»Wie großzügig von dir!«

»Allerdings. Immerhin riskiere ich den Verlust eines meiner … Leute«, bemerkte der Tiefling. »Natürlich wäre es schade um dich, aber ich habe keine große Wahl, denn in meiner Bande geht kaum noch jemand als Mensch durch. Du wirst schon dafür sorgen, wenig Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen, und die paar Dunkelelfen in der Stadt der Segel dürften dir keine Probleme bereiten.«

»Was ist mit der Überfahrt?«

»Kein Schiff. Du begleitest eine Karawane nach Letzthafen. Dort beginnst du mit deinen Nachforschungen, und sobald du alles weißt, was es zu wissen gibt, ziehst du auf eigene Faust weiter nach Luskan.«

»Das dauert aber länger.«

»Schon der Weg ist interessant.«

»Und hinter mir wird er sich schließen und vermutlich erst im Frühjahr wieder offen sein.«

Dieser Gedanke brachte Erzgo Alegni zum Lachen. »Barrabas der Graue fürchtet sich doch nicht vor ein bisschen Schnee! Du bleibst garantiert nicht lange in Letzthafen. Dort gibt es kaum Leute, die für uns von Interesse sind. Deshalb wirst du noch vor der Tagundnachtgleiche in Luskan sein. Erledige deinen Auftrag und komm zurück, bevor der Schnee die Pässe versperrt.«

»Ich war … vierzig Jahre nicht mehr in Luskan« protestierte Barrabas. »Ich habe dort keine Kontakte mehr, kein Netzwerk.«

»Der Großteil der Stadt ist seit dem Fall des Hauptturms unverändert. Sie wird von fünf Hochkapitänen regiert.«

»Und hinter denen stehen die Dunkelelfen-Söldner«, erklärte Barrabas. »Und wenn es heißt, dass man die in der Stadt nur noch selten zu sehen bekommt, kannst du wetten, dass diese Gerüchte von den Dunkelelfen selbst stammen, damit Leute wie du und die Herren von Tiefwasser beruhigt die Augen abwenden können.«

»Nun, dann findest du eben für mich die Wahrheit heraus.«

»Wenn die Berichte, von denen du sprichst, nicht wahr sind, komme ich vermutlich nie zurück. Das Erinnerungsvermögen der Dunkelelfen ist nicht zu unterschätzen.«

»Mein lieber Barrabas, das ist ja das erste Mal, dass du vor etwas Angst hast«, staunte Alegni.

Bei diesen Worten straffte sich der Mörder und sah den Tiefling böse an.

»Vor Einbruch des Winters«, betonte Erzgo Alegni. Dann nickte er zur Stadt hinüber. »Die Karawane bricht morgen früh auf.«

Seine Gedanken führten in hundert verschiedene Richtungen, kamen jedoch nirgendwo zu einer angenehmeren Schlussfolgerung. Barrabas der Graue ging auf die Stadt zu. Er hatte sich viele Jahre gezielt von Luskan ferngehalten. Mit jemandem wie Jarlaxle Baenre legte man sich schließlich nicht folgenlos an.

Er dachte an jenen Kampf in Memnon zurück, bei dem die Agenten von Bregan D’aerthe ihm seine Geliebte vorgeführt hatten. Sie hatten ihn vor den Folgen gewarnt, wenn er ihr Angebot, sich ihnen erneut anzuschließen, ausschlagen würde. Wieder sah er die drei toten Drow vor sich, verwarf das Bild jedoch, denn er wollte sich lieber auf die wenigen Wochen konzentrieren, die er anschließend mit seiner Geliebten verbracht hatte.

Sie zählten zu seinen besten Zeiten, aber irgendwann war sie davongelaufen oder verschwunden. Hatten die Dunkelelfen sie noch einmal erwischt? Hatten sie die Frau getötet, um ihm seine Gewalt heimzuzahlen?

Oder war es diese teuflische Schwert? Fast hätte er zu Erzgo Alegni zurückgeblickt, als dieser beunruhigende Gedanke in ihm aufstieg, denn der Shadovar war schon bald nach seinem Verlust in sein Leben getreten und hatte ihm die Freiheit geraubt.

Ihm alles geraubt.

Bei diesem letzten Gedanken erschien ein verächtliches Lächeln auf den Lippen von Barrabas dem Grauen. »Mir alles geraubt?«, flüsterte er hörbar. »Was gab es da schon zu rauben?«

Bis er ans Tor von Niewinter gelangte, hatte Barrabas all diese Erinnerungen abgestreift. Er musste nach vorn blicken, sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren. Wenn es in Luskan noch Drow gab, würde er den kleinsten Fehler mit seinem Leben bezahlen.