9

Als die Welt zerbarst

Dahlia wusste, dass jemand ihr folgte. Lange hatte sie es als Hirngespinst abgetan und auf ihre sehr verständliche Angst geschoben, dass sie sich dort unten in Gauntlgrym mächtige Feinde gemacht hatte, deren Zorn sie nicht so leicht entrinnen würde.

Aber wie hatte man sie gefunden? Mussten sie nicht davon ausgehen, dass sie in der alten Zwergenstadt umgekommen war?

Sylora hatte sicher damit gerechnet, dass die Ashmadai, die sie zurückgelassen hatte, sterben würden. Dann aber tastete Dahlia unwillkürlich nach der Brosche, die immer noch an ihrer Bluse hing. Die Brosche verlieh ihr eine gewisse Macht über die Untoten, band sie jedoch auch an Szass Tam. Entsetzt riss sie das Schmuckstück ab und warf es in das nächste Kanalloch.

Im Zickzack lief sie durch die Stadt, nahm jede Seitengasse, die sich anbot, und schwang sich einmal sogar auf ein Dach. Sie rannte, so schnell sie konnte, aber dennoch wurde sie weiterhin verfolgt, wie sie feststellte, als sie irgendwann müde wurde.

Dahlia schlüpfte in die nächste Seitenstraße. Diesmal wollte sie hinter ihre Verfolger gelangen, damit sie diese besser erkennen konnte. Auf der anderen Seite versperrte ihr ein Holzzaun den Weg, aber den konnte Dahlia leicht überwinden. Wenige Schritte davor nahm sie Anlauf zum Sprung, kam jedoch schlitternd zum Stehen, weil zwei große Männer – Tieflinge – hinter einem Haufen Kisten hervortraten und ihr den Weg versperrten.

»Schwester Dahlia«, sagte der eine. »Wovor läufst du weg?«

Die Elfe sah sich um und war wenig überrascht, als drei weitere kräftige Halbteufel hinter ihr in die Gasse traten. Alle trugen die Tracht von Luskan, aber sie wusste, wer sie waren, besonders da der erste sie als »Schwester« angesprochen hatte.

Sylora hatte die Jagd prompt aufgenommen.

Dahlia richtete sich auf. Ihre besorgte Miene wich einem Ausdruck der Belustigung. So war es ihr recht. Wenn sie nicht fliehen konnte, blieb immer noch die Lust am Kampf.

Sie klappte ihren Stab zu voller Länge auf, hielt ihn horizontal vor den Körper und löste beidseits die zwei Fuß langen Flegel, um mit dem Dreiteiler zu kämpfen.

»Möchte jemand vortreten, oder muss ich euch alle auf einmal töten?«, fragte sie, während sie die Enden langsam zum Kreisen brachte.

Keiner der Ashmadai kam auf sie zu, ging in Verteidigungsposition oder zog auch nur eine Waffe. Das irritierte die Elfe.

Was wussten sie?

»Du willst wirklich so weitermachen?«, sagte eine weibliche Stimme am Ende der Straße, während Dahlia noch zu den drei Ashmadai hinter sich blickte. Sie drehte sich rasch wieder um. Zwischen den beiden Tieflingen stand Sylora, die in ihrem roten, tief ausgeschnittenen Gewand mit dem hohen steifen Kragen um ihren kahlen Kopf wie immer phantastisch aussah. »Von der Versagerin zur Verräterin? Ich hätte dich für klüger gehalten.«

Dahlia ließ diese Worte auf sich einwirken, denn sie wusste noch nicht, wie sie darauf reagieren sollte.

»Im Moment des Triumphes hat Dahlia versagt«, erklärte Sylora. »Glaubst du, wir, die treueren Diener von Szass Tam, waren überrascht, dass unsere vorwitzige kleine Schwester den Todesring nicht in Gang setzen konnte? Glaubst du, wir – besonders ich – hätten dir das je zugetraut? Deshalb habe ich eingegriffen, um Szass Tam nicht zu enttäuschen. Immerhin hast du bei der Suche nach dem Urelementar wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet, auch wenn du dann …«

»Dann wolltest du mich töten«, unterbrach Dahlia sie.

Sylora zuckte nur mit den Schultern. »Ich konnte dir nicht vertrauen, also konnte ich dich nicht mitnehmen – nicht mit deinen starken Verbündeten, dem Zwerg und seinem Begleiter, diesem Dunkelelfen. Du hast mir kaum eine Wahl gelassen und sogar versucht zu verhindern, was getan werden musste.«

»Und jetzt bist du gekommen, um es zu Ende zu bringen«, stellte Dahlia ungefragt fest. Ihre strahlend blauen Augen blitzten vor Vorfreude. »Willst du dich wieder hinter deinen fanatischen Handlangern verstecken, oder beteiligst du dich diesmal am Kampf?«

»Wenn es nach mir ginge, wärst du längst tot«, entgegnete Sylora und warf Dahlia etwas vor die Füße. Die Elfe wich aus und machte sich auf einen Feuerball oder einen vergleichbaren Angriff gefasst. Als nichts dergleichen geschah, warf sie einen genaueren Blick auf das, was Sylora ihr hingeworfen hatte. Sie erkannte die Brosche wieder, die sie vor kurzem entsorgt hatte. Weiter nichts.

»Unser Herr sieht immer noch Potenzial in dir«, erklärte Sylora. »Er hat mir aufgetragen, dich unter meine Fittiche zu nehmen. Als meine Dienerin.«

»Niemals!«

Sylora hob einen Finger. »Du hast eine Chance, das hier zu überleben, Dahlia, und dich erneut unter den Dienern unseres Herrn einzureihen. Vielleicht kannst du dich in seinen Augen sogar wieder reinwaschen, vielleicht gar in meinen. Entweder das oder der Tod. Willst du dein Leben wirklich so leicht aufgeben?«

Dahlia überlegte kurz. Sie wusste natürlich, dass Sylora ihr das Leben schwer machen würde, aber so hatte sie zumindest eine Chance.

»Komm«, forderte Sylora sie auf. »Überleg es dir. Im Süden tobt eine wilde Schlacht, und zwar mit den Nesser-Barbaren. Es würde dir doch Freude bereiten, ein paar Shadovar zu töten?«

Dahlia fühlte ihren Trotz so vollständig von sich abfallen, dass sie sich fragte, ob Sylora sie mit einem Zauber belegt hatte. Aber diese Sorge verflog rasch, denn sie kannte den wahren Grund für ihre schwindende Entschlossenheit. Gab es etwas auf der Welt, was Dahlia mehr hasste als die Nesserer?

Sie sah Sylora an, denn sie traute der Frau aus Tay nicht.

»Wenn ich deinen Tod wollte, meine Liebe, dann wärst du bereits tot«, antwortete Sylora auf ihr erkennbares Misstrauen. »Ich hätte die ganze Straße mit Todesmagie füllen können – oder mit mordlüsternen Ashmadai.« Sie streckte ihr die Hand hin. »Unser Weg führt nach Süden, gegen Nesser. Ich ernenne dich zum Hauptmann, und solange du gut kämpfst, lasse ich dich in Ruhe.«

»Ich soll Sylora Salm trauen?«

»Kaum. Aber ich diene Szass Tam, und der setzt noch Hoffnungen in dich. Wenn das Ungeheuer ausbricht, beanspruche ich die Katastrophe für mich, denn sie ist mein Verdienst. Du wirst dabei eine Nebenrolle spielen, als diejenige, die Informationen gesammelt, aber im entscheidenden Moment versagt hat. Andererseits bist du noch jung und kannst dir mit jedem Unhold aus Nesseril, den du erschlägst, neues Vertrauen erwerben.«

Dahlia stoppte die immer noch wirbelnden Enden ihres Stabs, klappte ihn ein und machte ihn wieder zum Wanderstab. Dann bückte sie sich, um die Brosche aufzuheben, betrachtete sie kurz und steckte sie schließlich wieder an ihre Bluse.

Auf der anderen Seite des Zauns belauschte Barrabas der Graue jedes Wort. Trotz der erheblichen Bedeutung des Gesprächs irritierte ihn besonders die Erwähnung des Drow und des Zwergs, die irgendwie mit dieser Elfenkriegerin, Dahlia, zusammenhingen. Sein kurzer Aufenthalt in Luskan war bisher wenig ergiebig gewesen, obwohl er in die Unterstadt vorgedrungen war und dort mit dem Phylakterion gesprochen hatte, das den Geist von Arklem Greeth barg.

Noch passten nicht alle Teile zusammen, aber für den verfluchten Alegni dürfte es bereits reichen.

Bald darauf war er wieder unterwegs. Auf einem heraufbeschworenen Nachtmahr, der niemals müde wurde, ritt er in gestrecktem Galopp nach Süden und beobachtete den Rauch, der weit im Südosten zum klaren Himmel des Spätsommers aufstieg.

Viele Meilen entfernt ritt auch Drizzt Do’Urden auf einem magischen Tier nach Süden und sah dabei denselben Rauch. Am ersten Nachmittag seines Erscheinens hatte Drizzt Bruenor in dem Dorf zurückgelassen, wo sie sich gegen Essen und Unterkunft nützlich gemacht hatten.

Andahars lange Beine trugen den Elfen geschwind und unbeirrt durch die bewaldeten Berge. Drizzt ließ die Glöckchen am Zaumzeug des Einhorns klingeln, weil ihr Lied eine willkommene Abwechslung war.

Für den Drow und seinen Freund war der Sommer schwierig und zäh verlaufen. Die fortwährende Enttäuschung, von einer Sackgasse in die nächste zu stolpern, machte Bruenor allmählich zu schaffen. Drizzt merkte, dass der einstige König seinen raubeinigen Freund Pwent vermisste, obwohl Bruenor dies natürlich nie zugeben würde.

In Drizzt hingegen meldete sich eine Rastlosigkeit, die er vor Bruenor sorgsam geheim hielt. Wie viele Jahre wollte er noch in Höhlen nach Hinweisen auf ein altes Zwergenreich suchen? Bruenor war sein ältester und bester Freund, aber nun waren sie schon sehr lange nur zu zweit unterwegs. Die Trennung vor ein paar Tagen hatte beiden gutgetan.

Der Drow trieb Andahar mit aller Kraft voran, und als er schließlich eine größere Straße erreichte, hielt er sich nicht vorsichtig an der Seite, wie es in diesen Zeiten, wo Banditen durch die wilden Felsspitzen zogen, eigentlich ratsam war.

Er dachte nicht offen darüber nach, denn er wollte es nicht einmal sich selbst eingestehen, aber Drizzt Do’Urden könnte gerade nichts Besseres passieren als eine Begegnung mit ein paar Räubern, am besten einer ganzen Bande. Seine Säbel steckten schon viel zu lange in ihren Scheiden, und auch Taulmaril, der Herzenssucher, hing schon zu lange über seiner Schulter.

Drizzt hielt auf den Qualm zu, der hoffentlich ein Zeichen dafür war, dass etwas nicht stimmte. Eine bevorstehende oder bereits begonnene Schlacht vielleicht.

Solange noch genug Feinde warteten, die es wert waren …

Bei der nächsten Abzweigung wählte er den Weg nach Süden, auch wenn dieser nicht direkt auf den Rauch zuführte. Drizzt kannte diese Gegend ziemlich gut und nahm wahr, dass der Rauch aus dem Berg Dankglut aufstieg, einem der wenigen echten Berge in den Felsspitzen. Er hatte zwei Gipfel, einen niedrigeren im Norden und einen höheren südöstlich davon. Beide waren aus nacktem Fels, weil dort irgendwann einmal der ganze Wald verbrannt war und die Erosion dann die Erde fortgespült und weggeweht hatte.

Der Dunkelelf wusste, dass man sich dem Berg am besten von Südosten her näherte, und dabei konnte er sich auch gleich einen guten Überblick verschaffen. Deshalb bog er in Höhe des Berges sogar noch weiter ab und hielt auf einen hohen Hügel im Südosten zu, der sich gut als Aussichtspunkt eignete. Der Rauch schien aus der Spitze des tiefer gelegenen, nördlichen Gipfels zu quellen.

Am Fuß des steilen, bewaldeten Hügels entließ Drizzt sein Einhorn. Mit dem Bogen in der Hand kletterte er den Hang hoch, immer von Baum zu Baum, damit er vor dem nächsten Schritt sicheren Halt fand. Schließlich erreichte er die Kuppe. Drizzt überlegte, ob er auf einen Baum klettern sollte, entschied sich dann aber für eine Felsnase auf der Westseite, direkt gegenüber dem Berg mit den zwei Gipfeln.

Als er ins Freie trat, schirmte er seine Augen mit einer Hand ab, um einen besseren Blick auf den Ursprung des Qualms zu haben. Er sah weder Armeen ziehen noch Drachen am blauen Himmel.

Vielleicht ein Freudenfeuer in einem Barbarenlager? Eine Riesenschmiede?

Nichts davon erschien ihm logisch. Um ein so großes Feuer derart lange zu nähren – die Rauchfahne war schon tagelang sichtbar –, hätte man einen ganzen Wald verheizen müssen. Bruenor hatte natürlich behauptet, das müsse eine Zwergenschmiede sein, ein Zwergenfeuer aus einem alten Zwergenreich, aber das behauptete der Zwerg schon lange bei jedem Zeichen.

Drizzt starrte lange in die Ferne und verfolgte die Linie so weit hinunter, wie es nur ging. Als etwas Wind aufkam und der düstere Schleier ein wenig zerstob, bemerkte er dort auch etwas Rotes, Streifen zwischen den Steinen.

Dann flog die Welt in die Luft.

Auf der Erzgo-Alegni-Brücke in Niewinter standen Barrabas der Graue und Erzgo Alegni. Auch sie bemerkten den Rauch, der von hier aus besser zu sehen war, weil sie näher dran waren.

»Ein Waldbrand?«, überlegte Barrabas. »Ich war nicht sehr nah dran, und die Leute in Letzthafen wussten auch nicht mehr als ihr hier in Niewinter.«

»Und du hieltest es nicht für nötig, mal genauer nachzusehen?«, blaffte Alegni.

»Ich hielt meine Informationen über die Magier von Tay und die von ihnen geplante Katastrophe für dringlicher.«

»Du bist also nicht auf die Idee gekommen, dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte? Vielleicht wartet da drüben im Nordosten schon ein roter Drache darauf, dass diese Sylora ihn losschickt.« Noch während er dies sagte, ging der Befehlshaber der Nesserer auf der Brücke auf das ferne Schauspiel zu, legte seine Hände auf das Geländer und blickte nachdenklich nach Norden.

»Wäre ich dorthin geritten und nicht rechtzeitig hier eingetroffen, bliebe noch weniger Zeit, sich darauf einzustellen«, hielt Barrabas dagegen.

Alegnis sah sich nicht zu ihm um.

»Das mag sein«, sagte der Tiefling kurz darauf. »Aber jetzt zieh los und sieh zu, was du in Erfahrung bringen kannst.« Diesmal blickte er sich um. Barrabas machte ein missmutiges Gesicht. »So weit ist es gar nicht.«

»Schwieriges Gelände, weitab vom Weg.«

»Du redest, als ob ich …«, setzte Alegni an, brach aber ab, als Barrabas entsetzt die Augen aufriss.

Erzgo Alegni fuhr zu dem niedrigen Berg mit der Qualmwolke herum – dem Berg, der gerade in den Himmel gesprungen war, wie es aussah, wo sich harter Stein in etwas Geschmeidigeres verwandelte, wie eine Wolke aus unglaublich dichter Asche.

Die Ashmadai im Niewinterwald fielen betend vor Glück auf die Knie. Sie waren von dem Anblick überwältigt, weil sie wussten, dass er einen wundervollen Todesring einläutete.

»Oh, die Götter sind wahrlich mit uns!«, frohlockte Sylora, als der Berg in die Luft flog und sie den Winkel der Explosion abschätzte. »Als ob ich selbst gezielt hätte …«

Der Berg schien genau auf die Stadt Niewinter zu zielen, und genau das war auch der Fall. Der Berg Dankglut war nicht einfach ausgebrochen. Der wütende Urelementar war ebenso auf ein Blutbad versessen wie Szass Tam.

Sylora legte Dahlia einen Arm um die Schultern und schüttelte die Elfe wie eine Freundin.

»Geht schnell in Deckung!«, wies Sylora ihre Truppe an, die sich bereits darauf vorbereitet hatte. »Das Ungetüm, unser Ungetüm, hat gebrüllt.«

Rund um Dahlia rannten die Ashmadai hin und her, sammelten ihre Sachen zusammen und eilten zu der Höhle, die ihnen Schutz bieten sollte und in der Dor’crae und Valindra sich bereits vor dem Brennen des Tageslichts versteckten.

Dahlia rührte sich nicht. Sie konnte es nicht, denn angesichts des Wütens des befreiten Urelementar, der nun als Vulkan explodierte, war sie vor Entsetzen und Ehrfurcht wie erstarrt.

Was hatte sie getan?

Drizzt sah, wie der niedrigere Gipfel des Berges sich zu spalten und in den Himmel zu fliegen schien. Dabei dachte er an einen Tag vor langer Zeit an der Küste vor Tiefwasser, einen heißen Sommertag. Er und Catti-brie hatten Deudermont auf der Seekobold begleitet und im Hafen Vorräte aufgenommen und ein wenig ausgespannt. Unten am Strand hatte das Paar einen ruhigen Nachmittag verbracht.

An jenem friedlichen Tag hatte er mit Catti-brie ein Spiel gespielt, das ihm ausgerechnet in diesem entsetzlichen Moment wieder einfiel. Er hatte ihre Beine im feuchten Sand vergraben.

Das Aufbrechen des Berges erinnerte ihn daran, wie Catti-brie ihre sandigen Beine angehoben hatte. Die Steine dort drüben schienen sich zu teilen wie der Sand am Strand, doch statt des weichen Fleisches von Catti-bries Beinen tauchten hier wütende Lavaströme auf.

Viele Herzschläge lang herrschte eine unheimliche Stille, während der Berg sich reckte und streckte, sich hob und verrenkte und mit der dicken Wolke eine gespenstische Gestalt annahm, die an Kopf und Hals eines Vogels erinnerte.

Erst da begriff Drizzt, dass die Stille nur daran lag, dass die Schockwelle, das ohrenbetäubende Getöse, ihn noch nicht erreicht hatte. Er sah Bäume in der Ferne in seine Richtung umstürzen, immer vom Berg weg.

Dann bäumte sich der Boden unter seinen Füßen auf, und ein Gebrüll wie von hundert wütenden Drachen ließ ihn in die Knie gehen und die Hände über seine Ohren schlagen. Als er ein letztes Mal zum Vulkan hinüberblinzelte, geriet das Gestein in Bewegung – eine Wand aus Steinen und Asche, weit höher als der höchste Baum, die wie verrückt auf den Ozean zuhielt und dabei alles verbrannte und niederwalzte, was ihr im Weg stand.

»Bei den Göttern«, flüsterte Erzgo Alegni.

Der Berg machte einen Satz, kippte und setzte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in Bewegung. Unterwegs verschlang er alles, was da war.

Und er hielt genau auf Niewinter zu.

»Das Ende der Welt«, flüsterte Barrabas der Graue. Diese Worte von diesem Mann wirkten so fehl am Platze, so überzogen und doch so … unzureichend, dass sie Bände sprachen.

»Ich verschwinde«, erklärte Alegni gleich darauf. Er warf einen Blick auf Barrabas und zuckte mit den Schultern. »Leb wohl.«

Damit trat Erzgo Alegni ins Schattenreich und ließ Barrabas auf der Brücke zurück.

Er blieb nicht lange allein, denn inzwischen begriffen die Bewohner von Niewinter, welch ein Verhängnis dort auf sie zurollte. Schreiend und weinend rannten sie durch die Straßen und riefen nach ihren Angehörigen.

Barrabas sah, wie die Menschen in die Häuser liefen, aber beim Blick auf die nahende Lawine aus brennendem Gestein war ihm klar, dass die einfachen, flachen Gebäude von Niewinter keinen wirklichen Schutz boten.

Wohin sollte er laufen? Wie konnte er entrinnen?

Instinktiv warf der Assassine einen Blick zum Wasser. Vielleicht sollte er in den Fluss springen und zum Meer schwimmen. Doch als er in die Gegenrichtung schaute, sah er, dass der Berg schon fast da war. Dort im Fluss war er auf jeden Fall verloren.

Um ihn herum regneten riesige glühende Steine herab, die in den Fluss und auf die Häuser stürzten.

Was konnte diese Katastrophe überstehen?

Barrabas der Graue schwang sich über das Brückengeländer, sprang jedoch nicht hinunter, sondern kletterte in das eiserne Tragwerk und suchte dort sicheren Halt.

Ringsumher wurden die Schreie der Bewohner von Niewinter immer schriller und lauter, bis sie im Gebrüll von hundert Drachen untergingen. Dann folgte das Getöse von immer mehr Häusern, die einstürzten, und Wasser zischte laut, als die heiße Lava den Fluss erreichte.

Barrabas wagte keinen Blick auf das, was dicht unter ihm hindurchströmte, doch er fühlte die sengende Hitze, als säße er direkt vor dem heißen Feuer eines Waffenschmieds. Die Brücke erzitterte, und er fürchtete schon, sie würde nachgeben und ihn dem sicheren Tod überlassen.

Es hörte einfach nicht auf – das Donnern, das Feuer, die brennenden Steine, die vom Himmel fielen, die Verwüstung der gesamten Stadt.

Und dann war es vorbei. So plötzlich, wie die erste tosende Woge seine Ohren erreicht hatte, wurde es still.

Totenstill.

Kein Schrei, kein Stöhnen, keine Klage. Eine sanfte Brise, sonst nichts.

Lange Zeit später, nach einer Stunde oder mehr, wagte Barrabas der Graue unter der Erzgo-Alegni-Brücke hervorzukriechen. Er musste seinen Mantel vors Gesicht halten, um sich vor der brennenden Asche zu schützen, die noch immer in der Luft hing.

Alles war grau, tief unter der Asche und tot.

Niewinter war tot.