12

Schreie aus alter Zeit

Melnik Starkamboss verhakte seinen Pickel mit einem störrischen Stück Fels und drehte und zerrte mit aller Kraft. »Komm schon, du Stück Goblin-Schnodder«, ächzte er und strengte sich nach Leibeskräften an. Er sah das glänzende, silbrige Metall dahinter. Diese Ader wollte er erreichen.

»Na, Goblin-Schnodder hättest du mit deinem Pickel schon längst zerquetscht«, erklärte ein anderer Bergmann, Quentin Steinbrecher, der auf der anderen Seite des Tunnels arbeitete.

Melnik grunzte und bemühte sich weiter.

»Hey, habt ihr mein Essen dabei?«, fragte Quentin, aber Melnik nahm wahr, dass sein Kamerad in den Tunnel blickte und nicht zu ihm, so dass er seine Arbeit nicht unterbrach. Endlich gab der lästige Stein nach.

Aber Melnik jubelte nicht los, denn er fragte sich, wen sein Partner unten im Tunnel angesprochen haben könnte. Normalerweise liefen andere Zwerge in den Minen unter Kelvins Steinhügel im Eiswindtal eher weiter oben herum. Sie hingegen arbeiteten ganz am Ende der Mine. Weiter unten dürfte niemand sein.

»Na, was ist?«, begann Quentin, brach dann jedoch keuchend ab und wich zurück.

Als Melnik sich von der Wand löste und in den gewundenen Gang blickte, hielt auch er die Luft an.

Dort kamen Zwerge auf sie zu, aber solche Zwerge hatten die beiden noch nie gesehen.

»Die sind tot! Lauf!«, schrie Melnik, brachte es aber nicht fertig, selbst die Beine in die Hand zu nehmen. Ebenso wenig wie sein Kumpel.

Helft uns, hörte er sie in seinem Kopf. Helft uns, Zwerge von Delzoun.

»Hast du das gehört?«, fragte Quentin, der nun rückwärtsging.

»Ich hab was gehört!«

Kreischend fuhr Quentin herum und rannte davon.

Die Geister kamen Melnik so nah, dass sich diesem vor Angst alle Haare an seinem zotteligen Körper sträubten. Dennoch harrte er breitbeinig aus und stemmte sogar die Hände in die Hüften.

»Sagt schon, was wollt ihr?«, fragte er.

Nachkommen von Delzoun … Melnik hörte einen Wortbrei in seinem Kopf: Ungeheuer erwacht … Lava fließt … Gauntlgrym in Bedrängnis …

Eigentlich hätten sie nur dieses eine Wort zu sagen brauchen, Gauntlgrym, denn dieser Begriff war Melnik so geläufig wie jedem Zwerg aus der alten Sippe von Delzoun. Stolpernd wich der Zwerg zurück, wobei ihm seine Füße ebenso wenig gehorchen wollten wie seine Stimme. Die Geister folgten ihm und erfüllten seinen Kopf mit ihrem Flehen, obwohl er natürlich keine Ahnung hatte, was er tun sollte.

»Stokkel Silberbach!«, schrie Melnik, obwohl er weit von den bewohnten Bereichen der Höhlen entfernt war.

Die Geister schienen mehr als gewillt zu sein, ihm zu folgen. Als er sich umdrehte und losrannte, sah er immer wieder nach hinten, um sicherzugehen, dass die Entfernung zu ihnen nicht zu groß wurde, merkte aber bald, dass sie problemlos das Tempo hielten.

Die Erkenntnis, dass er ihnen unmöglich entkommen konnte, selbst wenn er dies wollte, machte Melnik ziemlich zu schaffen, aber die Geister hatten den Namen ihrer alten Heimat genannt, und das musste auch Stokkel Silberbach hören.

»Sorg einfach dafür, dass der Becher voll bleibt, sonst schlag ich dir die Faust so tief ins Auge, dass meine Finger am Hinterkopf wieder rausgucken«, verkündete Athrogate, und alle Anwesenden, insbesondere Genesay, die Kellnerin, wussten, dass das kein leeres Gerede war. Eilig schenkte sie dem Zwerg nach.

»Heda, so redest du aber nicht mit Genesay«, mahnte ein Mann, der neben Athrogate hockte.

»Schon gut, Murley«, sagte das Mädchen, das dabei Athrogate im Blick behielt, der kochend vor Wut dasaß.

Der Zwerg lehrte seinen Humpen mit einem langen, tiefen Zug, sah Genesay an, zeigte auf den Becher und drehte sich langsam zu dem Mann an seiner Seite um.

»Du wolltest mich doch nicht etwa dumm anmachen, oder?«, fragte Athrogate.

»Sei ein bisschen höflicher zu Genesay«, verlangte Murley, der jetzt aufstand und sich vor dem Zwerg aufbaute.

»Oder?«

»Oder ich …«, begann Murley, wurde aber von seinen Freunden unterbrochen, die neben ihm auftauchten und jeder einen Arm festhielten.

»Lass es gut sein, Mur«, sagte der eine.

»Ja, leg dich nicht mit ihm an«, sagte der andere. »Der hat mächtige Freunde. Mit schwarzer Haut.«

Bei diesen Worten plusterte Murley sich etwas weniger auf. Athrogate merkte, dass alle in der Schenke zu ihnen herübersahen.

»Was haben denn meine Freunde damit zu tun?«, knurrte der Zwerg. »Glaubt ihr etwa, ich bräuchte Hilfe, um euch drei zu zerquetschen?«

»Guter Zwerg, der Becher ist voll«, warf Genesay ein.

Athrogate sah sich zu ihr um und grinste über ihren Versuch, ihn abzulenken und das Gespräch zu beenden.

»Ja, das stimmt«, brummte er, griff zu und kippte Murley und seinen Freunden das Bier ins Gesicht. »Und jetzt wieder nachfüllen«, sagte er zu Genesay.

Murley riss sich schnaubend von einem seiner Freunde los, der angesichts der Bierdusche zurückgewichen war. Er trat einen Schritt auf Athrogate zu, aber der lächelte nur und blickte auf den Gürtel des Mannes. Das Krummschwert, das dort hing, war wirklich eine klägliche Waffe im Vergleich zu den zwei mächtigen Morgensternen, die Athrogate auf dem Rücken trug.

»Vielleicht kannst du es ja noch ziehen«, spottete Athrogate. »Vielleicht triffst du ja sogar noch, bevor dein Kopf einfach Plopp macht und platzt.«

»Lass es sein, Murley!«, rief eine Frau auf der anderen Seite der Schenke. »Seine Waffen stecken voller Magie. Dagegen kommst du nicht an.«

»Na, da bist du ja ein tapferer Kerl, Zwerg«, reizte Murley seinen Kontrahenten. »Mal versteckst du dich hinter den verdammten Dunkelelfen, mal hinter der Magie in deinen Waffen. Ich würde dich zu gern ohne diesen Schutz erwischen und dir ein paar Manieren beibringen.«

»Murley!«, schimpfte Genesay, die diese Szene bereits kannte und wusste, auf welch gefährlichem Boden der Pirat sich bewegte.

»Bruhaha«, lachte Athrogate, wenn auch weniger schallend als sonst. Es war ein leises, trauriges Geräusch. Er sah nach seinem Becher, der noch leer war.

»Nachfüllen!«, herrschte er Genesay an.

»Zwerg!«, brüllte Murley.

»Oh, du bekommst schon noch Gelegenheit, mir das Maul zu stopfen«, versprach Athrogate.

Sobald Genesay ihm den gefüllten Becher hingestellt hatte, kippte er diesen in einem Zug hinunter. Dann sprang er von seinem Barhocker und stellte sich Murley und dessen Begleitern.

»Du glaubst, ich verstecke mich, ja?«, sagte der Zwerg. Er griff nach der Schnalle seines Harnischs, öffnete sie und ließ Weste und Morgensterne hinter sich auf den Boden fallen. »Na schön, Jungchen, ganz wie du willst.«

Er machte einen Schritt nach vorn und geriet dabei ins Schwanken, weil er schon mehr als ein Dutzend Biere getrunken hatte.

Murley riss sich von seinen Kumpanen los und stürmte los. Bevor der Zwerg sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, verpasste der Mann ihm auch schon einen rechten Haken mitten ins Gesicht.

»Bruhaha!«, lachte Athrogate.

Er ignorierte den linken Haken und den erneuten Treffer mit der Rechten, die nun folgten, senkte die Schulter und ging auf Murley los.

Der Mann warf sich zur Seite und wäre ihm fast entwischt, aber Athrogate packte ihn am Handgelenk. Allerdings konnte der Zwerg seinen Schwung nicht mehr abbremsen und stürzte zu Boden, ohne Murley loszulassen. Der Mann blieb jedoch stehen, und obwohl Athrogates Griff sich anfühlen musste, als ob er ihm das linke Handgelenk zermalmte, stellte er sich über den am Boden liegenden Zwerg.

Athrogate, der sich auf den rechten Ellbogen stützte und dabei nach links zurückdrehte, weil er mit dieser Hand immer noch seinen Gegner festhielt, konnte sich gegen den rechten Arm des Mannes nicht mehr wehren – nur mit seinem harten Kopf. Nach dem ersten Schlag zog er Murley näher zu sich herunter, steckte einen zweiten Schlag ein, und als Murley sich losreißen wollte, ließ Athrogate ihn so weit kommen, wie ihre ausgestreckten Arme es erlaubten.

Dann aber riss er den Piraten mit erschreckender Kraft nach vorn. Als Murley auf ihn fiel, bäumte sich der Zwerg mit seinem ganzen Körper auf und rammte ihm seine Stirn ins Gesicht. Der Pirat stöhnte, denn der Aufprall brach ihm die Nase, aber er brachte es dennoch fertig, sich auf den Zwerg zu werfen.

Dasselbe taten seine Freunde, so dass Athrogate nun unter drei Männern begraben lag.

Die anderen Gäste in der Schenke feuerten die Piraten an, weil in den letzten Jahren viele von ihnen Athrogates schwere Fäuste zu spüren bekommen hatten, manche sogar seine Zähne.

Tatsächlich sah es so aus, als erhielte der Zwerg endlich, was ihm zustand, denn immerhin prügelten nun drei Männer auf ihn ein.

Athrogate drehte und wand sich, bis er schließlich die Füße unter den Körper ziehen konnte. Die Menge wurde still. Irgendwie brachte der Zwerg das Unmögliche zustande: Er richtete sich auf und zog die drei Raufbolde mit. Dann begann er, noch wilder um sich zu schlagen, damit sie keinen sicheren Stand fanden. Athrogate straffte die Schultern, stürmte vor und trieb die drei vor sich her.

»Bruhaha!«, brüllte der Zwerg.

Ein paar Stammgäste an einem runden Tisch schrien auf und sprangen zur Seite, als der Zwerg und seine Opfer den Tisch rammten, dass das Holz splitterte, die Stühle umfielen und die Becher umkippten. Es schepperte und klirrte, als der Zwerg mit seinen drei Gegnern wieder auf dem Boden landete.

Als Athrogate hochkam, traf er einen der Kampfhähne mit einem linken Haken in die Rippen, der den Mann zwei Schritte nach hinten warf. Ungläubig starrte er den starken Zwerg an, schlug die Arme über die gebrochenen Rippen, rollte sich zusammen und blieb liegen.

Athrogate achtete nicht weiter auf ihn, sondern baute sich über dem zweiten Kämpfer auf, der inzwischen kniete, und rammte diesem zweimal von oben seine Stirn in das aufwärtsgerichtete Gesicht. Der Mann wäre zusammengebrochen, aber Athrogate hatte ihn fest am Kragen gepackt und hob ihn nun mit Schwung auf die Füße und noch höher. Mit der rechten Hand griff der Zwerg noch fester zu, doch mit der linken ließ er nun los, packte den Mann fest am Hosenlatz und stemmte den Schurken waagrecht in die Luft.

Der dritte hatte sich inzwischen an einem Stuhl hochgezogen. Ohne zu zögern, schlug er Athrogate diesen Stuhl so gewaltsam über den Rücken, dass das Holz nach allen Seiten auseinandersplitterte.

Athrogate taumelte nach vorn, doch dabei gelang es ihm, sich umzudrehen und zu sehen, wie der Pirat auf ihn zukam, ein Stuhlbein als Keule erhoben. Da warf der Zwerg dem Mann seinen hilflosen Freund entgegen. Der Angreifer duckte sich geschickt weg und ließ seinen Freund auf einen anderen Tisch voller Speisen und Getränke krachen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Unter Gebrüll stürmte der dritte weiter und schlug dabei mehrmals mit aller Kraft nach dem Zwerg. Athrogate hob den Arm, um die Schläge abzuwehren, und ging dabei vorwärts, damit der Pirat nicht mehr ausholen konnte. Er stieß dem Mann seine Schulter in den Bauch, griff mit einer Hand nach dem Arm mit der Keule und hielt mit der anderen seinen Gegner fest.

Der jedoch konnte sich so weit befreien, dass er das Tischbein mehrfach senkrecht nach unten rammen konnte, direkt auf den Kopf des Zwergs.

Athrogate umschlang den Mann daraufhin mit beiden Armen. Er richtete sich auf, hob den anderen hoch und drückte mit aller Kraft zu.

Der Mann hämmerte weiter auf seinen Kopf ein, so dass die schwarzen Haare des Zwergs bald voller Blut waren, aber seine Schläge wurden schwächer. Athrogate quetschte ihn wütend immer fester zusammen, bis ihm die Luft wegblieb und sein Rückgrat sich verbog.

Der Zwerg begann, sein Opfer vor und zurück zu peitschen. Als der Mann um Hilfe schrie, biss der Zwerg ihm in den Bauch und schüttelte den Kopf wie ein Wachhund. Der Pirat brüllte vor Schmerz.

Den nächsten Schlag sah Athrogate nicht kommen und wusste nicht einmal, dass er von einem seiner eigenen Morgensterne stammte. Er nahm nur noch den explosionsartigen Schmerz und die plötzliche Schwäche wahr, die ihn seitwärtskippen ließ. Der Mann, den er gebissen hatte, fiel mit ihm zu Boden. Dann schlugen und traten andere auf ihn ein und nahmen ihm das Licht. Die ganze Schenke war in hellem Aufruhr.

»Schlagt ihn tot!«, schrie einer.

»Lass den armen Mann los!«, brüllten andere.

Irgendwann hatte Athrogate sich wieder aufgerappelt, obwohl er nicht wusste, wie. Einen Moment später bemerkte er durch seine verschwollenen Augen, dass ihn ein Tiefling am einen Arm und ein Zwerg am anderen Arm festhielten.

»Verschwinde und schlaf deinen Rausch aus!«, schrie ihm der Zwerg ins Ohr. »Und komm erst wieder, wenn du bessere Laune hast.«

Athrogate wollte Einwände erheben und seine Waffen zurückfordern, aber da bewegte sich die Tür auf ihn zu – jedenfalls kam es ihm so vor, und er brauchte noch etwas Zeit, ehe ihm klar wurde, dass er sich der Tür näherte, und zwar schnell. Er wurde hinausgeworfen und landete stolpernd auf der Straße.

Störrisch kam er wieder auf die Beine und drehte sich taumelnd um, um die Rausschmeißer zu mustern, die ihn von der Veranda aus beobachteten.

»Und merk dir, dass du uns alles bezahlen wirst, Athrogate, die Tür, die Tische und alles, was kaputtgegangen ist und verschüttet wurde!«, rief der Zwerg ihm zu.

Athrogate wischte sich mit einer Hand das Blut vom Mund. »Gebt mir meine Morgensterne«, verlangte er mit einem Blick auf seine Schulter, die aus einer Wunde blutete, die seine eigene Waffe geschlagen hatte. »Ich habe sie abgelegt, weil ich mich zu benehmen weiß.«

»Holt sie her«, sagte der Zwerg, einer der Besitzer der Taverne, zu den Umstehenden.

Zwei Männer verschwanden, kamen aber bald mit der Nachricht zurück, dass die Morgensterne und der Harnisch verschwunden waren.

Niedergeschlagen und benommen wanderte Athrogate unter Schmerzen durch die Straßen von Luskan. Natürlich war das nicht seine erste Schlägerei gewesen, nicht einmal die erste innerhalb der letzten zehn Tage, und auch nicht die erste, nach der er sich auf der Straße wiedergefunden hatte. Er hatte sich immer damit getröstet, dass er mehr ausgeteilt als eingesteckt hatte, aber das Fehlen seiner Morgensterne aus Stahlglas, die ihm so lange gute Dienste geleistet hatten, war bitter. Außerdem war er schlimmer verletzt als je zuvor.

Er überlegte, ob er ins Bett gehen sollte, wusste aber nicht mehr, wo er eigentlich war. Als er sich verwirrt umschaute, konnte sein Gehirn das Gesehene und seinen bisherigen Weg nicht einordnen. Deshalb stolperte er noch ein Stück weiter, bis er irgendwann in einer Seitenstraße an einer Hauswand zusammensank.

»Na, für diese hübschen Dinger kriegen wir eine ganze Menge Münzen«, sagte ein schmieriger Pirat zu seinem Kumpan, mit dem er sich in den Laderaum ihres Schiffes zurückgezogen hatte. Er hob Athrogates Harnisch mit dem einen Morgenstern hoch. Die zweite Waffe hielt er in der anderen Hand. »Was für ein Glück, dass der Zwerg so edel war, sie für uns abzulegen!«

»Ja!«, stimmte sein Freund zu. »Ich finde, davon sollten wir uns ein eigenes Boot kaufen. Ich wäre gern Kapitän.«

»Was? Du der Kapitän? Ich habe das Zeug mitgenommen!«

»Und ich habe dem Zwerg damit im Kampf eins übergezogen«, hielt der andere dagegen. »Na ja, wir verkaufen beides, sehen, was wir dafür bekommen, und kaufen am besten gleich zwei Boote.«

Der andere willigte lachend ein. »Was für ein Glück!«, sagte er erneut.

»Glaubst du wirklich?«, erklang eine Stimme aus Richtung der Leiter. Beide Männer schauten hinüber. Und beide wurden blass, so weiß, wie der Fremde schwarz war.

»W-wir haben sie gefunden«, stotterte der zweite.

»Stimmt. Und hier ist euer Finderlohn«, erklärte der Drow.

Er warf ihnen ein Kupferstück hin.

Hilf uns!

»Was?«, erwiderte Athrogate, dem nicht klar war, was er gerade gehört hatte – oder ob er überhaupt etwas gehört hatte.

Er öffnete eines seiner geschwollenen Augen ein wenig, dann etwas mehr, als er den Zwerg vor sich sah – und noch weiter, als ihm klar wurde, dass das nicht der Eigentümer der Schenke war, die er verwüstet hatte, sondern einer von den Zwergengeistern, denen er vor zehn Jahren an einem Ort begegnet war, den er lieber vergessen hätte.

»Argh! Was willst du von mir?«, rief Athrogate. Er stemmte die Fersen in den Boden und drückte sich so heftig nach hinten, dass sein Rücken unwillkürlich an der Wand nach oben rutschte.

Athrogate war schon über vierhundert Jahre alt und niemals feige gewesen. Er hatte mit Drow und Drachen gekämpft, mit Riesen und Goblin-Horden. Zusammen mit Drizzt und Bruenor hatte er sich in der Schwebenden Seele dem Drachenleichnam gestellt, und davor war er gegen Drizzt angetreten. Auf ganz Faerûn gab es keinen furchtloseren Krieger als den kampferprobten, mordlustigen Athrogate.

Doch jetzt hatte er Angst. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und seine Worte drangen nur mühsam durch die klappernden Zähne. Der Knoten in seinem Hals war so dick wie einer seiner verlorenen Morgensterne.

»Was willst du von mir?«, fragte er mit Angstschweiß auf der verletzten Stirn. »Ich wollte das nicht, ehrlich! Ich wollte das nicht! Ich hätte Gauntlgrym doch nie … Oh, bei Moradins wütendem Arsch!«

Hilf uns …, hörte er in seinem Kopf.

Das Ungeheuer erwacht …

Vetter von Delzoun …

Ein ganzer Schwarm Zwergengeister hatte sich um ihn geschart, griff nach ihm und flehte ihn an. Athrogate hätte sich vor Entsetzen am liebsten direkt in die Wand gedrückt. Die Stimmen in seinem Kopf ließen nicht locker. Sie wurden lauter und drängender, bis Athrogate schließlich die Arme in die Luft warf und schreiend aus der Gasse stolperte. Er rannte die Straße entlang, um den Geistern von Gauntlgrym zu entkommen und mit ihnen der schrecklichen Erinnerung an die große Schmiede und an das, was er getan hatte.

Stolpernd hetzte er durch die Stadt, wo ihn viele bemerkten und zweifellos glaubten, er hätte den Verstand verloren. Vielleicht hatte er das sogar, dachte der Zwerg. Vielleicht hatte die Schuld von damals ihn doch noch eingeholt, gaukelte ihm Geister vor und ließ in seinem Kopf Worte erklingen. Schließlich erreichte er das Gasthaus, in dem er ein Zimmer gemietet hatte.

Es war ein gutes Gasthaus, das beste von Luskan. Das Zimmer bot einen schönen Blick auf den Hafen und hatte einen eigenen Zugang zu dem umlaufenden Balkon. Athrogate stürmte so schnell die Außentreppe empor, dass er sich an einer der Holzstufen die Knie anschlug. Oben angekommen blieb er wie angewurzelt stehen.

Denn dort erwartete ihn Jarlaxle, auf dessen Gesicht sich Belustigung und Enttäuschung abzeichneten.

Der Drow hielt Athrogate seinen Harnisch mit den Morgensternen hin.

»Ich dachte, den hättest du gern wieder«, sagte Jarlaxle.

Athrogate griff zu, zögerte aber, als er einen Blutfleck auf einem Riemen bemerkte. Er sah den Dunkelelfen an.

»Sie waren mit ihrem Finderlohn unzufrieden«, erklärte der Drow mit nachlässigem Schulterzucken. »Ich musste etwas Überzeugungsarbeit leisten.«

Als Athrogate den Harnisch nahm, lenkte Jarlaxle seinen Blick zum Hafen, wo rund um eines der dort vertäuten Schiffe Unruhe ausgebrochen war. Das Schiff lag in der Tat sehr tief, und als Athrogate genauer hinsah, schien es trotz der verzweifelten Bemühungen der Mannschaft zu sinken.

Er sah zu Jarlaxle zurück, der mit übertriebener Geste an seinen breitkrempigen Hut mit der Feder tippte. Da fielen ihm die tragbaren Löcher des Dunkelelfen ein. Was mochte ein solches Loch anrichten, überlegte der Zwerg beim Blick auf den Hafen, wenn es im Laderaum eines Schiffes landete?

»Nicht im Ernst«, murmelte der Zwerg.

»Jetzt sind sie überzeugt«, erwiderte Jarlaxle.

Hilf uns …, hörte Athrogate in seinem Kopf. Die willkommene Ablenkung durch die Possen seines Gefährten verpuffte.

Das Ungeheuer erwacht.

Rette uns!

Keuchend sah der Zwerg sich um.

»Was ist?«, fragte Jarlaxle.

»Sie sind hier, sag ich dir«, antwortete Athrogate, eilte zur Brüstung und schaute nach unten. Dann drehte er sich mit großen Augen um und hätte Jarlaxle fast über den Haufen gerannt, als er zur Tür zu seinem Zimmer stürmte. »Die Geister von Gauntlgrym! Das Ungeheuer erwacht, und sie geben mir die Schuld!«

Athrogate knallte die Tür hinter sich zu, doch Jarlaxle machte keine Anstalten, ihm zu folgen, sondern wartete aufmerksam ab.

Dabei spürte er … eine Kälte wie von einem kurzen, eisigen Windstoß, die über ihn hinwegflutete. Der Drow war verwirrt, weil er die Geister nicht sehen konnte – doch in Gauntlgrym hatte er sie gesehen. Darum griff er in einen seiner vielen magischen Beutel und zog etwas heraus, was er seit der Zauberpest nur noch selten trug, seine magische Augenklappe. Nach einem zögernden Seufzer hob er sie vors Gesicht und band sie fest. Er hielt beide Augen noch kurz geschlossen, ehe er sie schließlich zu öffnen wagte.

Früher hatte er die Augenklappe ständig getragen. Vor vielen Jahren hatte sie ihn vor unerwünschter magischer Spionage bewahrt und ihm insbesondere extradimensionale Dinge gezeigt, die in bestimmten Situationen sehr hilfreich sein konnten. Doch in den siebenundsiebzig Jahren seit der Zauberpest hatte der Blick, den die Augenklappe auf die andere Welt warf, sich oft zumindest als verwirrend erwiesen.

Er wandte sich gerade rechtzeitig zur Tür, um zu sehen, wie ein Zwergengeist hindurchschlüpfte. Prompt begann Athrogate wieder zu schreien.

Jarlaxle ging selbst zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Er wollte sichergehen, dass die Geister seinem entsetzten Freund nichts antaten.

Das taten sie auch nicht. Stattdessen bettelten sie ihn an. Aus unerfindlichen Gründen waren die Geister von Gauntlgrym zur Oberflächenwelt aufgestiegen.

Der Drow-Söldner seufzte ergeben. In seinem Zögern lagen eine böse Vorahnung und jede Menge Unbehagen. Er hatte ausgiebige Nachforschungen über die Katastrophe während seiner Reise mit der Magierin aus Tay angestellt und dabei keine Kosten gescheut, weil er ihnen diese gemeine Täuschung heimzahlen wollte. Jarlaxle schätzte es gar nicht, zum Narren gehalten zu werden. Zudem war er zwar nicht für sein großes Mitgefühl bekannt, doch der Blutzoll, den die Katastrophe Niewinter gekostet hatte, hatte ihn zutiefst empört.

Dennoch war am Ende alles im Sande verlaufen, obwohl er gute Informationen erhalten hatte und wusste, dass Athrogate das Unheil, das er mit der Betätigung des Hebels angerichtet hatte, unbedingt wiedergutmachen wollte. Jarlaxle hatte es dabei belassen, weil die Vorstellung, noch einmal an diesen finsteren, wahrscheinlich völlig zerstörten Ort zurückzukehren, ihm gar nicht behagt hatte. Zudem war er sich nicht einmal sicher, ob er Gauntlgrym überhaupt wiederfinden würde. Der eine Tunnel, den er kannte, war bei der Katastrophe eingestürzt, und seine Späher hatten keinen anderen Zugang entdecken können.

Aber die Geister waren gekommen, und laut Athrogate behaupteten sie, dass das Ungeheuer wieder erwacht wäre. Tatsächlich wurde die nördliche Schwertküste in letzter Zeit wieder von Erdbeben heimgesucht.

Vielleicht nahm der Urelementar diesmal Luskan aufs Korn, eine Stadt, die für Jarlaxle Bregan D’aerthe immer noch einen gewissen Gewinn abwarf.

Der Söldner seufzte zum dritten Mal. Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen, und das war nie besonders verlockend.