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»Begleitet mich ein Stück«, sagte Amanda und scheuchte uns von der Couch. Es klang eher nach einer Bitte als nach einem Befehl, und ich sprang auf, erleichtert, dass ich es mal mit einer Eingeweihten zu tun hatte, die nicht wie eine Furie auf mich losging.

Emma dagegen zögerte. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich muss noch meinen Stoff durcharbeiten.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, deutete sie auf ihre Umhängetasche.

Ich hoffte, dass sie nicht schwindelte – dass sie nicht in Wahrheit eine Ausrede gebrauchte, um sich in ihrem Zimmer zu verkriechen.

Amanda musterte sie mit ernster Miene. »Na schön, Schätzchen. Dann rede ich mit dir später.«

Ich stellte meine Büchertasche im Vorbeigehen rasch in meinem Zimmer ab und folgte dann Amanda zu der kleinen Bucht, in der viele unserer Trainings-Einheiten abgehalten wurden. Der gewundene Fußweg war auf seine Weise grandios. Grau, steinig und düster führte er an schroffen Felsformationen vorbei zum Meer hinunter, das im vagen Dämmerlicht silbrig schimmerte.

Ich stieß gegen einen Stein, stolperte und fluchte unterdrückt. »Warum gibt es hier eigentlich keine Autos oder zumindest Fahrräder?« Die Küste lag etwa eine Meile vom Schulgelände entfernt, und das einzige Transportmittel außer den wenigen SUVs, die man den Suchern zugestand, waren unsere Füße.

»Sie sind reichlich altmodisch, unsere Vampire.« Amanda lächelte, und wieder einmal wurde mir bewusst, wie hübsch sie mit ihren klaren, scharf gezeichneten Linien, der makellosen dunklen Haut und den schulterlangen Dreadlocks aussah. In der letzten Zeit hatte sie einen angespannten Eindruck gemacht, aber nun, da wir allein waren, wirkte sie gelöster, und etwas von ihrem wahren Ich schimmerte durch die Maske der Verschlossenheit. Unwillkürlich fragte ich mich, wie viel von ihrer Veränderung mit Ronan zu tun hatte.

Wir kamen um eine Biegung und erspähten Masha und ihre Gruppe etwa eine Viertelmeile weiter unten am Weg. »Na großartig«, sagte ich und verlangsamte meine Schritte. »Wenn ich Glück habe, zerren diese Zicken mich in die Brandung und üben an mir Waterboarding.«

»Bring sie nicht auf dumme Gedanken!« Sie lachte, aber gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Schau«, sagte sie und ging ebenfalls langsamer. »Du scheinst eine besondere Begabung dafür zu haben, dir Ärger einzuhandeln. Und die Mädels da unten sind echt auf Krawall gebürstet.«

»Ich hatte gehofft, meine Nähe zu Alcántara würde sie ein wenig bremsen.«

Sie blieb mit einem Ruck stehen. »Der Typ kann deinen Untergang bedeuten.«

»Aber er hat mich mit Aufmerksamkeiten überhäuft.«

»Wir sprechen von Alcántara.« Sie betonte jedes Wort, als redete sie mit einer Geistesgestörten.

»Ich weiß, wovon wir sprechen«, fauchte ich. »Mag sein, dass ich etwas jünger bin als du, aber das heißt noch lange nicht, dass ich total bescheuert bin.«

»Schon klar.« Ihr Tonfall ließ allerdings Zweifel erkennen. »Verdammt, Drew, ich habe das kommen sehen. Du musst dich in Acht nehmen.«

Ich hatte den leisen Verdacht, dass Amanda immer noch nicht ganz begriff, worum es ging, obwohl sie schon viel länger auf der Insel lebte als ich. »Ist denn die Tatsache, dass er mir den Hof macht, nicht ein gewisser Schutz für mich?«

»Er macht dir den Hof?« Sie packte mich hart am Arm. »Seit wann? Ist etwas passiert?«

»Nein.«

Sie spürte mein Zögern. »Nein, es ist nichts passiert – oder nein, du willst nicht darüber reden?«

Ich zuckte zurück, als sich ihre Finger tief in mein Fleisch gruben. »Nun ja«, gestand ich und rieb mir den schmerzenden Arm. »Er hätte mich fast geküsst.«

Ihre Augen blitzten zornig, und ich begann mich zu verteidigen. »Im Ernst, Amanda, ich dachte, es hilft mir, wenn er mich mag.«

»So ein Quatsch!«

»Kein Quatsch!« Meine Stimme war jetzt ebenso scharf wie ihre. »Ich finde, es kann nicht schaden, sich den Gepflogenheiten hier ein wenig anzupassen.«

»Du wirst deinen Weg machen, auch ohne irgendwelche Vampire zu küssen.«

Wir hatten eine Weggabelung erreicht. Ein kleinerer Felsenpfad schlängelte sich von hier steil hinunter zu einem schmalen Strand. Ein halbes Dutzend Guidons waren bereits dort versammelt. Sie sprinteten im Gegenwind durch den Sand oder machten Liegestütze in der Brandung. Das Training war knallhart.

Eine Bewegung im Wasser fiel mir ins Auge. Es war Ronan auf einem Surfbrett. Amanda entdeckte ihn im gleichen Moment wie ich, und wir beobachteten ihn schweigend. Die See war ruhig und ohne Schaumkronen, mit hohen blaugrauen Wellen, die sich unter einem sonnenlosen Himmel aufbäumten. Ronan ritt auf einem mächtigen Wogenkamm in Richtung Strand, elegant und kraftvoll zugleich.

»Traumhaft, der Junge«, sagte Amanda leise.

Als er die Wellenbrecher erreichte, hechtete er in die Brandung, stemmte sein Longboard in die Höhe und trug es an Land wie ein Stück Treibholz, das er unterwegs gefunden hatte.

»Yeah. Er hat schon was.« Ich konnte mich nur mühsam von dem Anblick losreißen. Er gehörte Amanda. Ich dagegen musste mich mit einem Vampir begnügen, der auf blaue Flecken stand.

Kindisch, sicher, aber die Geschichte nervte mich. So wie es mich nervte, dass sie mich wie ein dummes Schulmädchen behandelte, das null Lebenserfahrung besaß. Meine nächsten Worte waren unüberlegt. »Vielleicht würde es dir auch nicht schaden, besser auf deinen Umgang zu achten und dich ein wenig den Gepflogenheiten auf der Insel anzupassen.«

Sie warf mir einen zornigen Blick zu. »Du anmaßende kleine Schlampe! Aus welcher Ecke hast du das jetzt?« Sie trat einen Schritt zurück, als könnte sie es nicht ertragen, neben mir zu stehen. »Egal, was du zu wissen glaubst, Trinity hatte schon recht. Du überschätzt dich. Ich war bis jetzt nett und geduldig mit dir, aber das heißt nicht, dass ich mir deine Unverschämtheiten gefallen lasse oder dass ich mich deinetwegen in Gefahr bringen werde, dass sich irgendjemand für dich in Gefahr bringen wird. Es gibt hier keine Seilschaften. Keine Bündnisse. Du musst für dich allein sorgen. Es wird Zeit, dass du dir deine Worte besser überlegst. Und dass du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst.«

Ronan hatte uns erspäht und kam den Felsenpfad herauf. »Ladys?« Seine zögernde Begrüßung passte zu dem fragenden Blick, den er uns zuwarf.

»Von wegen Ladys! Kümmere dich allein um dieses Gör, das du hierhergebracht hast!« Amanda schob sich an ihm vorbei und stürmte in Richtung Strand.

»Warte!«, rief er ihr nach.

Nach ein paar Schritten kam Amanda seiner Aufforderung widerwillig nach. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und hielt den Oberkörper sehr gerade. Sie war total angefressen. Allem Anschein nach hatte ich sie an einem empfindlichen Nerv getroffen.

Ronan verrenkte sich halb die Arme, bis er den Rückenreißverschluss seines Neoprenanzugs zu fassen bekam. Er zog ihn zur Hälfte auf und schälte sich aus den Ärmeln. Das gedämpfte Licht umspielte seine breiten Schultern und die muskulösen Oberarme mit dunklen Schatten. Da ich ihn nicht allzu neugierig anstarren wollte, konzentrierte ich mich auf seine Hände, die ein Geheimfach an der Innenseite des Anzugs ertasteten und darin herumkramten.

Aber mir blieb fast die Luft weg, als ich sah, was er da ans Licht holte. Es war ein dunkel angelaufener Messingschlüssel, ein total altmodisches Teil – lang und dünn, mit einem reich verzierten Griff und einem plumpen, stark gezackten Bart –, bei dem ich unwillkürlich an ein Spukschloss denken musste.

Eine unbändige Neugier packte mich, als ich sah, wie er Amanda den Schlüssel entgegenstreckte. Was in aller Welt hatte das zu bedeuten? Wozu brauchte sie das Ding? Um ein Verlies zu öffnen? Ein Stadttor? Sein Herz?

Amanda bedachte mich mit einem eisigen Blick, ehe sie sich Ronan zuwandte. Immer noch wütend, riss sie den Schlüssel an sich, verstaute ihn in ihrer Jackentasche und bedankte sich mit einem kurzen Nicken. Dann deutete sie höhnisch in meine Richtung. »Tu mir einen Gefallen und erkläre dieser Gehirnamputierten, weshalb sie nicht mit Vampiren rummachen sollte.« Damit wandte sie sich ab und lief zum Strand hinunter.

»Was war das eben?« Ronans Miene wirkte plötzlich sehr verschlossen. Er sah mich scharf an. Das stahlgraue Licht verlieh seinen grünen Augen einen eigenartigen Glanz, und sein dunkles, noch feuchtes Haar stand strubbelig nach allen Seiten ab.

Er sah so jung und lässig aus, dass plötzlich eine warme Zuneigung in mir aufstieg. War er wütend? Oder war es ihm verdammt egal, was ich so trieb?

Es hatte keinen Sinn, wenn ich mir darüber den Kopf zerbrach. Also kam ich direkt zur Sache. »Alcántara hätte mich fast geküsst.«

Die grünen Augen waren mit einem Mal hart wie Glas. »Komm, wir gehen ein Stück.«

Mit langen Schritten nahm er den breiteren der beiden Wege nach unten. Er schaute sich kein einziges Mal um, ob ich ihm folgte, und blieb erst stehen, als wir den kleinen Schotterplatz erreicht hatten, auf dem sein Range Rover geparkt war.

Ich trottete wortlos hinter ihm her. Plötzlich erschien mir das alles unerträglich. Vielleicht lag es an dem Dämmerlicht, das meine Gefühle durcheinanderbrachte. Ich sehnte mich verzweifelt nach ein wenig Sonnenwärme auf der Haut oder einer richtig finsteren Nacht. Dieses ewige Grau machte mich wahnsinnig.

Ich erfuhr in dieser Welt einiges über mich selbst – unter anderem, dass ich ein hormongesteuerter Teenager war, der sich gern auf einen Flirt mit der Gefahr einließ. Aber ich war nicht stolz, und der plötzliche Ausbruch von Selbsterkenntnis hinderte mich nicht daran, Mitleid bei Ronan zu schinden. »Er war immer freundlich zu mir. Alcántara, meine ich. Hat sich mit mir unterhalten und so.«

»Es ist das und so, das mich beunruhigt«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe dich gewarnt. Die Vampire sind kein Umgang für dich.«

Er stand hinter dem SUV, während ich vorn an der Motorhaube lehnte, damit er sich ungestört umziehen konnte. Er hatte immer einen Wasserbehälter im Wagen, und ich hörte das Plätschern, als er sich den Salzbelag von der Haut wusch, gefolgt von Stoffrascheln. Erst als er fertig zu sein schien, sagte ich: »Alcántara und ich sind kein Paar, wenn du das meinst.«

»Du hast keine Ahnung, auf welches Spiel du dich da einlässt.«

Ich verschränkte die Arme und presste sie gegen die Brust. »Hältst du mich für total bescheuert oder was? Ich bin schließlich nicht von gestern.«

»Nein. Du bist nicht von gestern. Aber du könntest morgen tot sein. Wenn du so weitermachst …« Er klang verärgert. Vielleicht trübte die Beziehung zu Amanda sein Urteilsvermögen. Oder, noch schlimmer, es war von Anfang an schlecht darum bestellt gewesen. Ich hätte ihm in der Angelegenheit gern auf den Zahn gefühlt, aber ich hatte meine Lektion aus dem Gespräch mit Amanda gelernt: Lass die Finger davon!

Er rubbelte sich mit dem Handtuch die Haare trocken, als er nach vorn kam. Das T-Shirt klebte ihm am feuchten Oberkörper. »Fühlst du dich zu ihm hingezogen? Brauchst du seine Nähe?«

»Nein … ich …« Das enge T-Shirt brachte mich im Zusammenhang mit dieser Frage durcheinander, und ich ärgerte mich maßlos über mein Zögern. Ich war nicht nur ein hormongesteuerter Teenager. Ich war ein unbeholfener hormongesteuerter Teenager.

Aber ich las in seinen Augen, dass ich zu lange gezögert hatte.

»Egal«, fauchte er. »Du musst darauf nicht antworten.« Er warf das Handtuch auf die Rückbank, sehr reserviert, als habe er einen Entschluss gefasst.

Ich wollte ihm erklären, dass wir darüber sprechen könnten, wenn er ein wenig Geduld hatte. Dass ich mich nach Nähe sehnte, aber nicht nach den Küssen eines Vampirs. Nach Freundschaft und allem, was dazugehörte – mit jemandem Witze machen, Pommes frites essen, Geheimnisse teilen. Dass ich mir wünschte, es gäbe jemanden, dem es nicht egal war, ob ich lebte oder tot war. Dass ich schreckliche Angst hatte zu sterben, bevor ich die Liebe erlebt hatte. Dass er bis jetzt der Einzige gewesen war, der sich irgendwie um mich gekümmert hatte. Dass ich ständig über Jungs im Allgemeinen nachdachte, aber auch über ihn, über Josh und über Vampire. Dass mir so etwas völlig normal erschien, weil ich jung und gesund war und junge, gesunde Bedürfnisse hatte. Dass ich mir Sorgen um ihn und Amanda machte und viel über Emma und Yas nachdachte. Dass ich mich fragte, wie sich all die Pärchen erst mal fanden. Ich schaffte das einfach nicht, weil ich voll damit beschäftigt war, verstauchte Knöchel und geprellte Rippen auszuheilen oder irgendwelchen Todesgefahren zu entrinnen.

Aber er gab mir nicht die Chance, auch nur einen dieser Sätze loszuwerden. Er sagte nur: »Bis später dann auf dem Schulgelände.« Dann stieg er ein und fuhr los.

Ohne mich mitzunehmen.